Die Dokumentationen über das ehemalige Frauenkabinett Finnlands regen sowohl Kaag-Hasser als auch Fans zum Nachdenken an

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Ein Standbild aus „First Five“, einem Dokumentarfilm über (unter anderem) die ehemalige finnische Premierministerin Sanna Marin (im Vordergrund).Bild HBO

Die neue dreiteilige Serie Erste Fünf von HBO Max handelt vom Frauenkabinett von Sanna Marin, der jungen finnischen Premierministerin, die in den letzten vier Jahren so etwas wie ein Weltstar geworden ist. Nicht nur wegen ihrer Arbeit, sondern auch wegen ihres Aussehens stand sie unter extremer Beobachtung, wie es bei Politikerinnen oft der Fall ist. In den Niederlanden ist die stellvertretende Ministerpräsidentin Sigrid Kaag (D66) ein typisches Beispiel dafür, aber mehr über sie später.

Die übermäßige Medienaufmerksamkeit für Marin war nicht völlig ungerechtfertigt. Sie war auch außergewöhnlich, als sie die politische Bühne betrat. Im Jahr 2019 war sie im Alter von 34 Jahren die jüngste finnische Premierministerin aller Zeiten und – damals – die jüngste Premierministerin der Welt. Was außerdem ins Auge fiel: Auch die vier anderen Parteiführer, mit denen sie eine Koalition bildete, waren allesamt Frauen. Nur einer von ihnen war über 35 Jahre alt.

Über den Autor
Natalie Righton ist eine politische Reporterin aus de Volkskrant. Seit 2013 schreibt sie über niederländische Politik. Zuvor war sie Korrespondentin in Afghanistan. Righton gewann mehrere Journalistenpreise.

Tanzen und trinken

Bis nach Amerika waren die Talkshow-Moderatoren überglücklich. Das Frauenkabinett wurde in linken Kreisen besonders gelobt, noch bevor die finnischen Frauen überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hatten. Letztendlich haben sie während ihrer Regierungszeit (2019-2023) auch viel erreicht. Aber das Kuriose daran ist, dass nur sehr wenig davon bei der breiten Öffentlichkeit hängengeblieben ist.

Was den meisten noch immer ein Begriff ist: das eine Video, in dem die junge Premierministerin Marin auf einer Party tanzend und wild trinkend zu sehen ist. Die durchgesickerten privaten Bilder gingen im Sommer 2022 in den sozialen Medien viral. „Der coolste Ministerpräsident der Welt“, titelte die deutsche Boulevardzeitung Bild.

Doch die Online-Frauenfeinde sehen in dem Tanzvideo eine Bestätigung dafür, dass die junge Marin für das höchste Amt ungeeignet sei. Nach Angaben der finnischen Opposition habe sich der damals 36-jährige Marin „einer Premiere unwürdig“ verhalten. So wie die stellvertretende Premierministerin Kaag von ihren Online-Hassern immer wieder als unzuverlässige „Hexe“ dargestellt wird, behaupten Marins politische Gegner, sie sei eine unzuverlässige „Drogenkonsumentin“. Es veranlasst Marin sogar dazu, sich einem Drogentest zu unterziehen, um hartnäckige Gerüchte zu unterdrücken, dass sie ihr Amt als Ministerpräsidentin im betrunkenen Zustand angetreten habe.

Es scheint offensichtlich, dass „weibliche Politiker weiterhin härter beurteilt und kritisiert werden als ihre männlichen Kollegen“, wie der Leiter der Dokumentationsabteilung von HBO Max beim Start der Serie Anfang Juni sagte Erste Fünf. Mittlerweile kennen wir dieses Argument. Doch diese Serie bringt den Finger überraschend gut auf den wunden Punkt. In drei Folgen zeigen die Macher ausführlich, wie wenig Politikerinnen ernst genommen werden.

Keine lockeren Gespräche

Erschreckend ist zum Beispiel der männliche Reporter, der Marin und die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern Ende 2022 fragt, warum sich das Duo gegenseitig besucht habe. „Liegt es zum Beispiel daran, dass Sie beide etwa gleich alt sind und die gleichen Interessen haben?“ Zu anderen Zeiten werden Marin und ihre weiblichen Kabinettsmitglieder immer wieder gefragt, wie sie die Betreuung ihrer Kinder mit der Arbeit vereinbaren. Diese Wiederholung von Fragen kann manchmal zu Irritationen führen, zeigt aber deutlich, dass es sich dabei nicht um zufällige Versprecher handelt.

Sanna Marin läuft.  Bild HBO

Sanna Marin läuft.Bild HBO

Diese Fehleinschätzung nagt an Marin. Wir sehen sie mehrmals durch den Wald rennen, wobei ihre eigene Stimme aus dem Off ihre Meinung zum Ausdruck bringt: „Laufen ist falsch, weil ich bei der Arbeit sein muss. Wenn ich arbeite, sollte ich bei meiner Familie sein. Putzen ist nicht erlaubt, da ich ein Dienstmädchen haben muss. Wenn ich noch eins in den Supermarkt schicke, nützt es auch nichts. Die Lebensentscheidung jeder Frau ist falsch.“

Mehr Aufmerksamkeit nach außen

Mittlerweile haben Marin und ihr Mitte-Links-Kabinett wirklich viel erreicht. So führen sie Finnland sicher durch die Corona-Krise und in Richtung NATO-Mitgliedschaft. Diese jüngste Entscheidung hat dafür gesorgt, dass die NATO stärker denn je ist und über 1.300 Kilometer zusätzliches Land entlang der russischen Grenze verfügt. Eine nicht zu unterschätzende Leistung.

Doch wie so oft bei Politikerinnen wird mehr auf das Äußere als auf die inhaltliche Leistung geachtet. Das ist in den Niederlanden nicht anders. So wird beispielsweise die VVD-Prominente Sophie Hermans von PVV-Chef Geert Wilders unverschämt als Ruttes „Taschenträgerin“ abgetan, während dies den Fraktionsvorsitzenden der größten Regierungspartei betrifft. Und der aufstrebende Star Caroline van der Plas wird von Kritikern als albernes Bauernmädchen dargestellt, während sie unbestreitbar eine große Leistung erbracht hat, indem sie Zehntausende Menschen anzog, die normalerweise nicht zur Wahl gehen, und zur größten Partei aufstieg.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass Befürworter von mehr Frauen in der Politik dazu neigen, jede Form inhaltlicher Kritik beiseite zu schieben. Die Schöpfer von Erste Fünf scheinen in diese Falle zu tappen. Kaum Beachtung findet zum Beispiel die Tatsache, dass die Aufregung um Marins Tanzfilm wirklich nicht nur von frauenfeindlichen Idioten ausgeht.

Es gab auch ernsthafte Kritik von Seiten der Finnen, die befürchteten, dass ihr Land durch die NATO-Mitgliedschaft in einen Krieg mit Russland verwickelt werden könnte. Diese Finnen glaubten, dass ihr Premierminister auf eine mögliche Invasion vorbereitet sein und sich nicht auf der Tanzfläche aufhalten sollte. Dass es an inhaltlicher Kritik mangelt Erste Fünf ist eine verpasste Chance, denn gerade dadurch können Politikerinnen ernster genommen werden.

Zeigen Sie Emotionen

Marin macht einen weiteren interessanten Punkt für alle Frauen, die zögern, in die Politik zu gehen. Sie ermutigt sie nicht nur, den Sprung zu wagen („Wenn du deine Macht nicht ausübst, wird es jemand anderes tun“), sondern ermutigt sie auch, ihre Emotionen vor allem in der Ausübung ihres Amtes zu zeigen. In den Niederlanden ist es bisher praktisch undenkbar, dass ein Minister oder Premierminister dies tun würde. Dann bist du schwach oder instabil, das ist die Idee.

Doch Marin geht – ohne Scham – halb weinend mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch die Ruinen seines Landes und sagt direkt in die Kamera: „Ich frage mich oft, wie andere europäische Staats- und Regierungschefs auch: Tun wir genug?“ Das glaub ich nicht.‘ Sie versucht sichtlich, ihre Tränen herunterzuschlucken. Zu Beginn der Dokumentation weint Bildungsministerin Li Andersson fast, als sie über Schulschließungen während Corona spricht.

Von 2019 bis 2023 wurde das finnische Kabinett von fünf Frauen geleitet.  Von links nach rechts: Anna-Maja Henriksson, Annika Saarikko, Sanna Marin, Maria Ohisalo und Li Andersson.  Bild HBO

Von 2019 bis 2023 wurde das finnische Kabinett von fünf Frauen geleitet. Von links nach rechts: Anna-Maja Henriksson, Annika Saarikko, Sanna Marin, Maria Ohisalo und Li Andersson.Bild HBO

In dieser Hinsicht haben die Niederlande noch einen langen Weg vor sich. Letzten Monat musste Premierminister Mark Rutte von den Koalitionspartnern nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es vielleicht besser wäre, wenn er seinen „Geschäftsschirm“ gegenüber den Erdbebenopfern in Groningen senken würde.

Wegbereiter

So gesehen ist Marin ein Vorreiter. Nicht nur im eigenen Land, indem wir Finnland in die NATO führen und damit einen neuen Weg einschlagen, sondern auch darüber hinaus: indem wir Frauen und Männern zeigen, wie sie sich an der Spitze verhalten können. Emotionen zu zeigen ist in Ordnung.

Die Schöpfer von Erste Fünf Ich hoffe, dass die Serie den Zuschauern bewusst machen wird, „dass die Zeit für mehr Geschlechtergleichgewicht in Entscheidungspositionen gekommen ist.“ Mit anderen Worten: Ein bisschen mehr Frauen in der Politik können nicht schaden. Genau diese Ansicht war übrigens der Grund, warum sich Sigrid Kaag 2021 um das Amt des Ministerpräsidenten bewarb. Obwohl sie dieses Versprechen nicht halten konnte, könnte es nicht lange dauern, bis eine Frau aufsteht, die Premierministerin werden kann, prognostizierte Kaag letzten Monat. Bemerkenswerterweise schaut sie sich selbst nicht mehr an. Könnte es sein? Eine Art Sanna Marin in den Niederlanden? Eine Mittdreißigerin, die stellvertretend für die Sozialdemokraten Ministerpräsidentin wird? Wenn das der Fall ist, sollte sie sich beeilen: Die Neuwahlen zum Parlament finden in spätestens zwei Jahren statt.



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