Steht den Niederlanden ein Herbst voller Streiks bevor? „Jetzt ist es an der Zeit, dass die einfachen Leute etwas Besonderes bekommen“

Steht den Niederlanden ein Herbst voller Streiks bevor „Jetzt ist


Markante Schaffner und Fahrer in der Halle des Rotterdamer Hauptbahnhofs. Rechts mit Fahne und Barad Dirigent Jelle Nauta.Bild Foto Raymond Rutting / de Volkskrant

In der Abflughalle von Rotterdam Central kann man den Reisenden am Freitagmorgen fast den Mut in die Schuhe sinken sehen. Bei der sardischen Familie zum Beispiel, die um 12:00 Uhr für den Heimflug auf dem Flughafen Schiphol sein muss und nun geschlagen auf den digitalen Fahrplan zeigt: „Alle Buchstaben sind rot“. Mit der türkischen Expat, die um 11 Uhr in Breda sein muss, um sich für ihren „Traumjob“ zu bewerben. Auch der Blinde, der nicht sehen kann, ob dieser eine Zug von 09:56 nach Amsterdam Centraal fährt oder nicht.

Wer sich in diesen beängstigenden Tagen hoffnungsvoll an Servicedesk-Mitarbeiterin Petra Vercouteren (57) wendet, dem sei geraten, sich an ihre Kollegen in Utrecht zu wenden. Denn Service leistet die NS-Mitarbeiterin zwar immer mit einem breiten Lächeln, aber heute ist sie nicht für jemand anderen da. Hier steht sie für sich selbst, oder besser gesagt: für ihren Tarifvertrag. Gemeinsam mit ihren Kollegen im restlichen Südholland streikt sie gegen den hohen Arbeitsdruck und das Lohnangebot der NS.

Denn das sei mit 3,2 Prozent pro Jahr viel zu wenig, um neue Mitarbeiter zu rekrutieren und damit den Personalmangel zu verringern, sagt Vercouteren. Außerdem ist es zu wenig, um die Inflation auszugleichen. Nicht nur die NS-Beschäftigten sehen ihre Kaufkraft jeden Monat weiter erodiert: Während das Zentrale Planungsamt für dieses Jahr mit Preissteigerungen von 9,9 Prozent rechnet, bleiben die Lohnsteigerungen bei 3,5 bis 4 Prozent.

Der Vorsitzende des FNV, Tuur Elzinga, sagte in einer Reaktion auf den Streik, er befürchte, „dass dies der Beginn eines heißen Herbstes ist“. „Wir sehen, dass die Wirtschaft wie ein Zauber wächst“, sagte er. „Also ist es jetzt wirklich an der Zeit, dass normale Leute etwas Besonderes bekommen.“ Dies ist nicht das erste Mal, dass die Gewerkschaft tropische Temperaturen vorhersagt. Anfang dieses Jahres warnte die Gewerkschaft auch vor einem „heißen Frühling“ und andernfalls vor einem „heißen Sommer“. Es war zwar heiß, aber bisher nicht auf dem Arbeitsmarkt.

Machtverhältnisse verändert

Ob die Vorhersage diesmal eintrifft, hängt – um im Bild zu bleiben – vom Klimawandel ab. Laut dem emeritierten Professor für Wirtschaftsgeschichte Jan Luiten van Zanden müssen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber noch an die veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt gewöhnen. Seit den 1980er Jahren konnte dank des breiten Spektrums an Arbeitnehmern immer der Arbeitgeber entscheiden: zehn weitere für Sie. Jetzt ist es umgekehrt: Von 143 offenen Stellen sind nur noch 100 arbeitslos.

„Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt, aber es dauert eine Weile, bis sich unsere Mentalität an diese neue wirtschaftliche Realität gewöhnt“, sagt Van Zanden. Es erinnert den Professor an die 1960er Jahre, als auch der Arbeitsmarkt angespannt war. „Nach dem Krieg machten sich noch alle Sorgen, dass es nicht genug Arbeitsplätze gebe, aber dann kam das Wirtschaftswachstum und der Arbeitsmarkt wurde enger“, sagt er. „Er führte erst in den 1970er Jahren zu einer Streikwelle, als die Niederlande bereits in einer Rezession steckten.“

Das bedeute laut dem Professor nicht zwangsläufig, dass ein heißer Herbst noch Jahre entfernt sei. Ein Streik, wie der in Rotterdam Central, kann ausreichen, um das „Tabu“ zu brechen. Streik ist ansteckend, sagt die Professorin für Arbeitsregulierung Agnes Akkerman von der Universität Amsterdam. „Untersuchungen zeigen, dass ein Streik die Wahrscheinlichkeit eines Streiks in einem ähnlichen Sektor oder Unternehmen erhöht.“

Die Chancen stehen also gut, dass sich bald auch andere Spediteure inspiriert fühlen, die Arbeit einzustellen. Vor allem, weil Untersuchungen laut Akkerman auch zeigen, dass Arbeitnehmer eher streiken, wenn sie riskieren, etwas zu verlieren (Kaufkraft), als wenn sie etwas gewinnen (Lohnerhöhung). Obwohl nicht jeder Sektor gleich leicht zu mobilisieren sein wird, glaubt sie. Schließlich hängt die Streikbereitschaft stark vom Organisationsgrad der Gewerkschaft ab. Wo es bei den 20.000 NS-Beschäftigten 50 Prozent sind, ist es bundesweit nur ein Sechstel.

Streik Tradition

Es gibt keine Streiktradition, insbesondere in „neuen“ Sektoren wie dem Dienstleistungs- und Informationssektor. Auch nicht in Jobs, in denen hochqualifizierte Menschen individuelle Arbeit leisten. Sie werden eher geneigt sein, ihr Gehalt auf individueller Ebene auszuhandeln. „Aufstehen ist auch nicht das einzige, was Mitarbeiter tun können, um sich Gehör zu verschaffen“, sagt Akkerman. „Sie können auch mit den Füßen abstimmen. Denn ein Jobwechsel kann oft auch zu einem besseren Gehalt führen. So gibt es beispielsweise bereits Arbeitgeber, die Zimmer für ihre spanischen Köche vermieten. Auch das sind Entgeltbestandteile, an die sie nicht gebunden sind, wenn sie nicht ebenso wie der Lohn tarifvertraglich geregelt sind.“

Letzteres ist keine Option für NS-Schaffner Jelle Nauta (39), der einen internationalen Passagier durch das Check-in-Gate am Rotterdamer Bahnhof lässt. In den letzten Monaten war er möglicherweise gezwungen, seinen Zaanse-Lebensmittelhändler gegen einen deutschen Discounter einzutauschen: kein Haar auf dem Kopf, um seinen Arbeitgeber zu verlassen. Bei NS gibt es ein altes Sprichwort: Man geht zur NS, um sich zur Ruhe zu setzen.



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