Jahr in einem Wort: „Globaler Süden“


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(Substantiv) ein vager, geografisch ungeeigneter und dennoch emotional nachhallender Begriff für das, was einst als Entwicklungsländer bekannt war

Um die zunehmende Beliebtheit des Begriffs „Globaler Süden“ in diesem Jahr zu würdigen, könnte die beste Analogie eine dieser Rockbands aus den späten 1960er Jahren sein, die jahrzehntelang beharrlich spielten, bevor sie mit ihrer ersten Welttournee den großen Durchbruch schafften.

Die beiden Wörter wurden offenbar erstmals 1969 von einem linken amerikanischen Aktivisten, Carl Oglesby, in einem Artikel miteinander verbunden, in dem er „die Dominanz des Nordens über den globalen Süden“ anprangerte.

In den nächsten 50 Jahren war der Ausdruck im Westen weitgehend auf die Grundsatzpapiere von Entwicklungsagenturen, Universitätsdebatten und Literaturzeitschriften beschränkt.

Doch gleichzeitig fasste es in postkolonialen Staaten Wurzeln und blühte auf, nicht zuletzt, weil es als weniger belastet galt als die „Dritte Welt“, wie westliche Experten in den 1970er und 1980er Jahren weniger entwickelte Regionen bevorzugten.

Und dieses Jahr ist seine Stunde gekommen. Mittlerweile ist es der Sammelbegriff auf Gipfeltreffen und in Strategiepapieren für die Teile der Welt, die dem Krieg in der Ukraine neutral gegenüberstehen und dazu neigen, die westlichen Mächte als heuchlerisch und blind zu betrachten. Schlagzeilenautoren verwenden es nach Belieben – manchmal sogar ohne Anführungszeichen.

Für Literalisten im „globalen Kommentar“ ist das ärgerlich. Sie betrachten es zu Recht als geografische Analphabeten: Indien und China zum Beispiel liegen beide auf der Nordhalbkugel.

Sie verdeutlichen auch die Widersprüchlichkeiten des vermeintlichen Blocks: Er ist ein Mischmasch aus Arm und Reich, aus Demokratien und Diktaturen und dazwischen liegenden Systemen. Aber es hat eine emotionale Kraft und verkörpert eine Identität, die die sprachliche Logik übertrifft.

Es wird also nicht einfach sein, die beiden Wörter zu entkoppeln. Sie haben Geschichte. Und beachten Sie, dass es mehr als ein halbes Jahrhundert – lange nach Oglesbys Tod im Jahr 2011 – dauerte, bis sich seine Münzprägung durchsetzte.

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