Europa hatte gerade den Krieg verlernt. Jetzt mangelt es der Ukraine an Waffen

Europa hatte gerade den Krieg verlernt Jetzt mangelt es der

Die EU kann mit der Nachfrage der Ukraine nach Waffen und Munition nicht Schritt halten. Die europäische Verteidigungsindustrie will ihre Produktion nicht ohne staatliche Garantien steigern. Diese Gewissheit ist im heutigen komplexen Europa schwer zu finden.

Peter Giesen Und Serena Frijters

„Während des Kalten Krieges verfügte die Bundeswehr über Tausende Leopard-Panzer, heute sind es nur noch dreihundert“, sagt Burkard Schmitt von ASD Europe. „Die letzten dreißig Jahre lebten wir in der Annahme, dass ein Krieg in Europa nicht mehr möglich sei. „Deshalb wurden die Armeen drastisch reduziert und damit auch die Verteidigungsindustrie“, so der Direktor für Verteidigung und Sicherheit der Organisation, die die Interessen europäischer Verteidigungsunternehmen in Brüssel vertritt.

Eine aktuelle Studie der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik spricht von „Bonsai-Armeen“, zu denen auch eine Bonsai-Industrie gehört. Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist Bonsai zu einer Eiche geworden, einer Industrie, die schwere Waffen und Munition in großen Mengen liefert. Dieser Übergang war schwierig und führte dazu, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld unter einem großen Mangel an Granaten für die Artillerie litt. Anschaulich sind die Millionen Artilleriegeschosse, die die EU versprochen hat, bis März 2024 an die Ukraine zu liefern. Es werden nur 520.000 sein, gab EU-Außenminister Josep Borrell kürzlich bekannt.

Über den Autor
Peter Giesen verordnet de Volkskrant über die Europäische Union und internationale Zusammenarbeit. Zuvor war er Korrespondent in Frankreich. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Die Wurzeln dieser Probleme liegen in den 1990er Jahren. Nach dem Fall der Mauer 1989 sprühte der Westen vor Optimismus. Der Kalte Krieg war vorbei, die Angst vor einer groß angelegten Konfrontation mit Russland verschwand. Die EU-Mitgliedsstaaten kassierten freudig ihre „Friedensdividende“. In den Niederlanden wurden die Ausgaben für die Streitkräfte mehr als halbiert, von mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 1989 auf 1 Prozent im Jahr 2014.

In Deutschland wurde davon gesprochen Gehen Sie durch den Handel, Veränderung durch Handel. Die Integration Russlands und Chinas in die Weltwirtschaft würde in den Ländern eine Mittelschicht schaffen, die früher oder später Freiheit und Demokratie fordern würde. Kurz gesagt: Irgendwann würde jeder so werden wie wir – friedlich und kommerziell.

Auch das Gesicht des Krieges veränderte sich. Nach dem Fall der Mauer schien ein großer Bodenkrieg in Europa der Vergangenheit anzugehören. Die europäischen Armeen bereiteten sich nicht mehr auf eine Panzerschlacht mit der Roten Armee vor, sondern auf Gefechte mit Taliban-Kämpfern, die einen Raketenwerfer auf der Schulter trugen. Die europäische Verteidigungsindustrie schrumpfte und konzentrierte sich auf technologisch fortschrittliche Waffen, die bei Kommandoeinsätzen gegen dschihadistische Gruppen in Afghanistan, im Nahen Osten und in Afrika eingesetzt werden könnten.

Hören Sie auch unseren Podcast

Oder hören Sie vorbei Spotify oder Apple-Podcasts.

Rückkehr des klassischen Krieges

Selbst Insider waren von der massiven Art und Weise überrascht, mit der Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte. „Mein erster Gedanke war: Das kann nicht wahr sein, dass wir einen weiteren klassischen Krieg in Europa haben“, sagte Thomas Müller, Vorstandsvorsitzender des großen deutschen Rüstungsherstellers Hensoldt, in der Mitteilung Süddeutsche Zeitung.

Die Rüstungsindustrie musste wieder mit Massenlieferungen beginnen. „Es ist klar, dass die Quantität übersehen wurde“, sagte der Politikwissenschaftler Christian Mölling von der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Die europäische Verteidigungsindustrie kann qualitativ hochwertige Produkte in homöopathischen Dosen herstellen. Sie kann kein robustes Material herstellen, das unter allen Bedingungen funktioniert, und zwar in großen Mengen. Dabei geht es nicht nur um die Produktion. In einem Krieg von großer Intensität muss man auch viel mehr Wartungsarbeiten durchführen. Dinge gehen kaputt und man muss sie schnell reparieren. Auch Europa ist darauf unzureichend vorbereitet“, sagt Mölling.

Dass der Übergang nicht schnell genug vonstatten geht, ist teilweise auf höhere Gewalt zurückzuführen. Der Aufbau neuer Produktionslinien braucht einfach Zeit. Auch die Amerikaner waren auf einen Zermürbungskrieg nur unzureichend vorbereitet, wenngleich sie ihre Streitkräfte deutlich weniger kürzten als die Europäer. Sie wollen nun die Produktion von 155-mm-Granaten bis 2025 von 20 auf 90.000 pro Monat steigern. Laut Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt, wird die EU bis Ende 2024 jährlich 1,4 Millionen Granaten produzieren können. Allein der deutsche Rüstungshersteller Rheinmetall will im nächsten Jahr 700.000 Granaten herstellen können.

„Mangelnde Dringlichkeit“

Viele Sicherheitsexperten glauben aber auch, dass Europa zu langsam ist. Laut Think Tank IISS werden die europäischen Verteidigungsausgaben im Jahr 2023 um 4,5 Prozent steigen. Das scheint viel zu sein, reicht aber für den Zermürbungskrieg in der Ukraine immer noch nicht aus, so der Forscher Ben Barry Financial Times. Nach zwei Kriegsjahren sieht er bei den europäischen Regierungschefs immer noch einen „Mangel an Dringlichkeit“. „Vielleicht haben wir zu viel und zu oft gezweifelt“, sagte EU-Außenminister Josep Borrell auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Über jeden neuen Schritt, etwa die Lieferung von F-16 oder Leopard-Panzern, wurde lange diskutiert. „Hätten wir uns früher entschieden, wäre der Krieg vielleicht anders ausgegangen.“

Diese Woche hat Borrell einen dringenden Brief an die Mitgliedstaaten geschrieben. Die Bemühungen Europas seien „eindeutig nicht ausreichend“, schrieb er. „Wir müssen mehr tun und wir müssen es schneller machen.“ Borrell forderte die Mitgliedstaaten außerdem auf, ihre Suche nach Munition in bestehenden Lagerbeständen in der EU und anderswo auf der Welt zu verstärken. In München sagte der tschechische Präsident Petr Pavel, bei einer tschechischen Durchsuchung seien fast eine Million Granaten gefunden worden. Wenn genügend Geld vorhanden ist, können sie in die Ukraine geschickt werden.

Die Entscheidungsfindung in Europa sei komplex, sagt Rem Korteweg vom Clingendael Institute: „Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, lud Präsident Biden schnell die CEOs der wichtigsten amerikanischen Verteidigungsunternehmen ins Weiße Haus ein, um zu diskutieren, wie die Produktion so gesteigert werden könnte.“ schnell. Könnte eventuell vergrößert werden.‘

Die europäische Verteidigung ist fragmentiert: 27 Mitgliedstaaten ohne zentrale Kontrolle. Die Vereinigten Staaten verfügen über 30 Hauptwaffensysteme, die EU-Mitgliedstaaten über 178. Jedes Land verfügt über eigene Flugzeuge, Panzer und Artillerie, wobei die Wahl oft durch den Wunsch bestimmt wird, die nationale Verteidigungsindustrie zu unterstützen.

Letzte Woche plädierte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, für die gemeinsame Entwicklung der europäischen Verteidigungsindustrie unter der Leitung einer neuen Persönlichkeit, der EU-Verteidigungskommissarin. Darüber hinaus will Breton schließlich einen europäischen Verteidigungsfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro, der von den Mitgliedsstaaten und der Industrie gefüllt werden soll.

Vorerst sind sie nur Vögel am Himmel, und die großen Verteidigungsetats liegen bei den Mitgliedstaaten. Sie geben an, die Ukraine voll und ganz zu unterstützen, doch laut Direktor Schmitt von der Organisation Europäischer Verteidigungsunternehmen dauert es oft lange, bis diese Unterstützung in konkrete Befehle umgesetzt wird. „Der Flaschenhals sind die Verträge, das höre ich von unseren Mitgliedern“, sagt er.

Sicherheit von Verträgen

Politiker haben darauf hingewiesen, dass die Branche Angst hat, zu wenig Risiken einzugehen, während der Markt schnell wächst. Der Kurs einer Rheinmetall-Aktie ist seit dem Krieg von 90 auf 360 Euro gestiegen. Aber so einfach sei es nicht, sagt Schmitt. „Ein Unternehmen investiert nur dann in eine teure neue Produktionslinie, wenn es Gewissheit über die zukünftige Nachfrage hat.“ Selbst ein relativ einfaches Produkt wie die 155-mm-Artilleriegranate ist in allen möglichen Varianten erhältlich. Da nicht alle vollständig austauschbar sind, muss man wissen, wer welche Granaten für welches Waffensystem wie viele kauft.“

Auch längerfristig wolle die Branche Sicherheit, sagt ein Rheinmetall-Sprecher. Sollte der Krieg in der Ukraine schneller als erwartet enden und die Nachfrage nach Munition wieder zurückgehen, will man nicht mit ungenutzten Produktionslinien enden. „Neue Kapazitäten können nur aufgebaut werden, wenn uns Aufträge vorliegen, die eine mehrjährige Nutzung gewährleisten“, sagte der Sprecher. „Langfristige Verträge sind ein wirksames Mittel, um die nötige Sicherheit zu schaffen.“

Die Branche sei weitgehend auf ihrer Seite, sagt Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Regierungen müssen Garantien geben, damit Unternehmen Investitionen wagen. „Letztendlich sind es die Regierungen, die Waffen und Munition bestellen.“ „Sie müssen Verträge abschließen“, sagte Mölling. „Die Branche hat ihre Kapazität um 40 Prozent erweitert.“ Sie sagt, sie könne mehr produzieren. „Was es braucht, sind konkrete Aufträge und eine angemessene Finanzierung“, schrieb EU-Außenminister Borrell diese Woche.

Russland gibt an, seine Verteidigungsausgaben inzwischen auf 6 Prozent des BIP erhöht zu haben. Für Präsident Wladimir Putin ist es einfacher, die Wirtschaft für einen Zermürbungskrieg zu organisieren. Putin stört sich nicht an unruhigen Wählern, während die europäischen Staats- und Regierungschefs sich mit Parteien wie der PVV auseinandersetzen müssen, die der Meinung sind, dass keine Hilfe an die Ukraine gehen sollte, solange „die Menschen hier“ mit hohen Preisen zu kämpfen haben.

Ungeduldige Wählerschaft

Die scheidende Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren schlug kürzlich vor, dass die Verteidigungsausgaben auf 4 Prozent des BIP steigen sollten, wenn Donald Trump die Präsidentschaftswahlen gewinnt und die amerikanische Unterstützung für Europa verschwindet. Das ist nicht unmöglich. In den 1950er Jahren gaben die Niederlande ebenfalls 4 Prozent für ihre Verteidigung aus. Doch dann hatte es einen Krieg erlebt, der seine Verwundbarkeit gnadenlos demonstrierte, und die Politik wurde von einigen großen Volksparteien mit einer äußerst loyalen Anhängerschaft dominiert.

Jetzt ist die Erinnerung an den Krieg verblasst, die Politik zersplittert und die Wählerschaft unbeständig und ungeduldig. Das mache es schwierig, die Unterstützung für die Ukraine zu erhöhen, sagt Mölling: „Man muss den Wählern sagen, dass sie ärmer werden, weil man die Kriegsanstrengungen in der Ukraine weiterhin unterstützt.“ Das ist keine beliebte Botschaft.“

Die Front verläuft nicht nur durch die Ukraine, sondern auch quer durch die öffentliche Meinung Europas. Doch letztlich müsse Putin im Interesse der europäischen Sicherheit gestoppt werden, meint Mölling wie fast alle Sicherheitsexperten. Dafür sei einfach ein großer Aufwand nötig, sagt er: „Europa muss mehr Geld ausgeben.“ Dies hat eine abschreckende Wirkung, die oft übersehen wird. Wenn du sagst: Lass es uns tun was auch immer notwendig ist„Unsere Bemühungen nehmen kein Ende, dann wird der Gegner anders rechnen.“



ttn-de-23

Schreibe einen Kommentar