Das eingeschläferte Europa wird von allen Seiten bedroht: „Die EU hat vergessen, über ihre geopolitische Basis nachzudenken“

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Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim G7-Treffen in Japan im vergangenen Mai. Ihr folgen Kanadas Premierminister Justin Trudeau, US-Präsident Joe Biden, Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak, der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.Bild Stefan Rousseau / Getty Images

„Wenn man die großen Zahlen betrachtet, ist Europa ein schrumpfendes Gebiet.“ Klein und verletzlich, mit einer alternden Bevölkerung“, sagt Segers. Europa hat vergessen, an seine geopolitische Basis zu denken, eingelullt von jahrzehntelangem wirtschaftlichen Wohlstand. Jetzt kommt die Bedrohung von allen Seiten.

Teure Energie aufgrund des Verlusts von russischem Gas gefährdet die Wettbewerbsposition europäischer Unternehmen. Das rohstoffarme Europa ist beim grünen Wandel in hohem Maße von China abhängig. Der Kontinent hat an seiner Südgrenze mit Migration zu kämpfen. Der Krieg in der Ukraine konfrontiert Europa mit der Tatsache, dass es sich nicht verteidigen kann. Und was passiert, wenn Donald Trump oder ein gleichgesinnter Republikaner nächstes Jahr die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt und die USA die europäische Sicherheit nicht mehr garantieren wollen?

Düstere Geschichte

Wer all diese Bedrohungen auf sich wirken lässt, gerät schnell in eine düstere Geschichte. Ist Europa in der Lage, den Kurs zu ändern, oder ist die Brüsseler Kompromissmaschine einfach zu langsam? Werden die Europäer genug Zeit haben, sich an eine neue, raue Welt anzupassen? „Der Druck auf Europa ist maximal“, sagt Segers. Eines gibt es im Gegenzug: „Die europäische Integration hat es schon immer gegeben.“ Bewältigung des Niedergangs gewesen, vom ersten Tag an. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Europa wieder auf die Beine kommen, verlor dann aber schnell seine Kolonien.“

Die EU hat insbesondere in den letzten dreißig Jahren große Erfolge bei der Eindämmung des Niedergangs erzielt. Eine gemeinsame Währung wurde geschaffen, die EU erweiterte sich nach Osten, die Eurokrise und die Coronakrise sind überwunden. Nach der russischen Invasion mobilisierte die EU unerwartet viel politische und militärische Unterstützung für die Ukraine. Die Abhängigkeit von russischem Gas wurde im Februar 2022 in einem Tempo reduziert, das für unmöglich gehalten wurde. „Man kann natürlich sagen: Es ist zu wenig, zu spät, aber es ist sehr beeindruckend, was passiert ist“, sagte Segers.

Wenn der Druck groß ist, scheint die EU immer wieder deutlich entschiedener zu agieren, als Kritiker erwarten. Im Bereich Energie, Rohstoffe und Chips wurden im vergangenen Jahr Schritte zur Unabhängigkeit unternommen. „Es ist viel passiert“, sagt Ed Kronenburg, ehemaliger Botschafter der Niederlande in China und Frankreich, jetzt Berater bei Hague Corporate Affairs. „Aber natürlich müssen all diese Pläne noch umgesetzt werden.“ Und eine Herausforderung dieser Größenordnung haben wir noch nicht erlebt. „Das ist eine völlig andere Dimension als zuvor.“

Annäherung durch Handelsabkommen

Europa blühte in der von den USA geführten Nachkriegsweltordnung auf. Es verschwindet, weil sich die Amerikaner zunehmend zurückziehen. Wenn Europa die internationale Ordnung aufrechterhalten will, muss es eine aktive Rolle spielen und die Annäherung an die Schwellenländer in Asien, Afrika und Lateinamerika suchen.

Freihandelsabkommen wie der Mercosur mit Südamerika können dabei eine wichtige Rolle spielen, sagt Segers. „Solche Abkommen machen die Welt stabiler.“ Sie stehen im Mittelpunkt der internationalen Ordnung, die Europa bewahren will. „Man handelt nicht nur miteinander, sondern tauscht auch Ideen aus.“

Allerdings ist das Mercosur-Abkommen noch immer nicht unterzeichnet. In den letzten Jahren ist es immer schwieriger geworden, Freihandelsabkommen abzuschließen. Rechte Parteien protestierten aus nationalistischen Gründen, während linke Parteien der Ansicht waren, dass Umwelt-, Klima- und Tierrechte nicht ausreichend gewährleistet seien. „Dekadent“, sagt Segers. „Man verschließt sich dem Ausland gegenüber.“ Und genau das kann man sich heutzutage nicht mehr leisten.“

Geopolitik ist teuer

Wenn die internationale Ordnung zusammenbricht, droht Chaos, warnt Segers. „Dann bekommst du eine Welt, die du bereits siehst.“ Die Russen werden sicherlich kein neues Römisches Reich errichten, indem sie weitere Teile Europas erobern. Aber es entsteht eine Welt, in der Russland und andere Länder Gewalt anwenden, um ihren Willen durchzusetzen. Das wird zur Destabilisierung führen.“

Die europäischen Staats- und Regierungschefs stehen daher vor einer enormen Aufgabe. Kommissionspräsidentin von der Leyen wird am Mittwoch erläutern, wie Europa diese Herausforderungen angehen will. Aber sie kann immer noch eine so leidenschaftliche Rede halten, die eigentliche Macht liegt bei den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Sie müssen in Brüssel eine Einigung erzielen, ihre Kompromisse aber auch den Wählern in 27 Mitgliedstaaten verkaufen.

Geopolitik ist teuer. Die Verteidigungsausgaben müssen stark steigen. Wer unabhängiger von anderen sein will, zahlt mehr für Energie, Chips und Konsumgüter. Die Frage ist, ob die europäischen Wähler dies akzeptieren werden, nachdem der private Konsum jahrzehntelang das höchste Gut war.

Kronenburg: „Letztendlich geht es um den politischen Willen.“ Und wenn man sich den Wahlkampf in den Niederlanden ansieht, geht es vor allem um innenpolitische Themen. Man braucht in allen Bereichen mehr Europa, aber das ist sehr schwierig. Die BBB sagt, Europa sollte sich nur auf Handel und Wirtschaft konzentrieren. Dann hast du nicht viel davon verstanden. Wer hätte gedacht, dass man als Land die geopolitischen Probleme unserer Zeit lösen kann?

Über den Autor
Peter Giesen verordnet de Volkskrant über die Europäische Union und internationale Zusammenarbeit. Zuvor war er Korrespondent in Frankreich. Er ist Autor mehrerer Bücher.



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