Schreie sind aus der kleinen Bäckerei Baydoun in Beirut zu hören. Ein Kunde ärgert sich darüber, dass er nur zwei Tüten Brot bekommen hat. „Gib mir noch eine Tasche“, ruft der 65-jährige Joseph Chalhoub. „Ich muss zwei Familien unterstützen!“ Seine Mundwinkel zittern, als er aus dem Laden tritt. Er und seine Kinder sind seit zwei Tagen ohne Brot.
Im Libanon wundert es niemanden mehr, dass Brot nun immer mehr zur Mangelware wird. Viele Bäcker haben ihre Pforten geschlossen, bei anderen Betrieben gibt es lange Schlangen. Die gängige Erklärung lautet: Russland ist in die Ukraine einmarschiert, und weil beide Länder große Getreideexporteure sind, ist der globale Weizenpreis durch die Decke gegangen. Seitdem ist die Lieferung in Länder der arabischen Welt ins Stocken geraten. Doch Chalhoub sieht das anders und ist beileibe nicht der Einzige in der Bäckerei. „Diese Propaganda wird künstlich geschaffen, damit die Regierung die Preise in die Höhe treiben kann. Sie sind alle Lügner, und alle machen Profit, einschließlich der Getreidemühlen und Bäckereien.‘
Warte zwanzig Tage
Zur Schuldenfrage später mehr. Es wurde festgestellt, dass die Ladenbesitzer, Vater und Sohn Shouman, seit zwanzig Tagen auf eine neue Mehllieferung warten. Sie hängen jeden Tag in der Fabrik am Band. „Wir hören immer: morgen, morgen, morgen“, sagt Ali Shouman (25) kopfschüttelnd.
Baguettes, Croissants und Süßigkeiten gibt es genug im Laden, da geht kein Weizenmehl durch. Ganz anders bei den nahrhaften Fladenbroten, einer Art XXL-Pita. Libanesen verwenden sie als essbares Besteck: Man reißt sie in Streifen und taucht sie in Hummus oder Olivenöl. Für einen subventionierten Preis von 50 Cent erhalten Sie beim Bäcker eine Tüte mit sechs Fladenbroten.
Anfang dieser Woche trafen Vater und Sohn eine drastische Entscheidung: Jede Familie erhält maximal zwei Tüten. Niemand wird bevorzugt, selbst jetzt, wo Ramadan ist und viele Menschen sich für Iftar eindecken wollen. Und wenn Sie eine Stunde später für eine zusätzliche Tasche zurückkommen? Keine Chance, grinst Chefverkäufer Sadiq al-Nahas (21). „Ich erkenne alle Gesichter.“ Doch wenig später kommt ein Mann mit einer dritten Tasche heraus. „Für jemand anderen“, murmelt er, bevor er schnell die Bäckerei verlässt.
Lepe-Zwischenhändler
Überraschenderweise spricht in der Bäckerei niemand über den katastrophalen russisch-ukrainischen Krieg. Niemand gibt Präsident Putin die Schuld, niemand erwähnt Erschütterungen auf dem Weltmarkt. Die Libanesen sind seit zwei Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise gefangen und haben sich allmählich an die Knappheit gewöhnt. Medikamente, Strom, Speiseöl, Zucker, Benzin, an fast allem mangelt es. Die alte Faustregel, dass man in Zeiten der Knappheit viel Geld verdienen kann, gilt jeden Tag. Im vergangenen Sommer gab es stundenlange Schlangen an den Tankstellen: nicht weil das Benzin ausgegangen war, sondern weil clevere Zwischenhändler Lagerbestände gespart und den Preis künstlich in die Höhe getrieben haben.
Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist etwas Ähnliches mit Brot passiert, sagte Rami Zurayk, Professor für Ernährungssicherheit an der American University of Beirut. „Nur um ein Missverständnis auszuräumen: Weizen ist dank einer guten Ernte im Jahr 2021 noch genug auf dem Weltmarkt. Die Versorgung ist nicht das Problem. Das Problem ist der hohe Preis, kombiniert mit dem Mangel an Devisen oder Dollars, mit denen die Menschen Waren importieren.‘
Angeln für einen günstigen Wechselkurs
Die Folge: permanenter Druck auf die Importeure, die alle bei der Zentralbank nach einem günstigen Wechselkurs fischen. Korruption lauert. Zwischen dem Anlegen eines Schiffes mit Weizen und dem Backen eines Fladenbrots mit diesem Weizen vergehen zehn bis fünfzehn Tage, erklärt Zurayk. Darin wird die Qualität geprüft und der Papierkram erledigt. Viele Parteien können den Fall verzögern, um den Preis in die Höhe zu treiben und größere Gewinnspannen zu erzielen, ohne dass die Bürger es sehen. „Es ist, als würde man an einem Unfall vorbeifahren, bei dem zwei Autos zusammenstoßen. Sie sehen den Schaden, wissen aber nicht, wer den Unfall verursacht hat.“
Am Dienstag konnten die Libanesen aufatmen, als das Kabinett von Ministerpräsident Najib Mikati bekannt gab, dass ein Notfonds des Internationalen Währungsfonds (IWF) 14 Millionen Euro für den Import von Weizen freigegeben habe. Es ist ein Putz, keine strukturelle Lösung. Auch die Subventionen für Fladenbrot könnten gekürzt werden, allerdings frühestens nach den Parlamentswahlen Mitte Mai: Niemand will jetzt eine so unpopuläre Maßnahme unterschreiben.
Mehr Mehl für eine Woche
„Irgendwann läuft hier alles aus“, sagt eine Kundin, die ihren Namen nicht in der Zeitung haben möchte. „Zu Hause habe ich immer Quiches und Dattelkekse gemacht, aber das geht jetzt seit zwei Monaten nicht mehr. Bald werden wir Freunde bitten müssen, uns Mehl aus dem Ausland zu bringen. Mit einer Schleife darum, wie eine Schachtel Pralinen.‘
Hinter ihr fiel in der Bäckerei der Strom aus. Das Familienunternehmen hat in den vergangenen sechzig Jahren alle Stürme überstanden, darunter auch den blutigen libanesischen Bürgerkrieg. Jetzt sagen Vater und Sohn Shouman, dass sie etwa eine Woche lang Mehl haben. Und danach? „Wir essen, wir trinken, wir danken Gott“, sagt Hussein Shouman (70) stur. So leicht gibt er nicht auf.