„Wir haben keine Decken, kein Essen, keinen Strom, keine Zelte. Uns ist nur kalt‘

„Wir haben keine Decken kein Essen keinen Strom keine Zelte


Die ersten Lastwagen mit Hilfsgütern treffen am Dienstagnachmittag im türkischen Göksun ein. Männer sind bereit, sie zu entladen.Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Als Yunus Avci am Sonntagabend in sein Schlafzimmer ging, die Decke über sein Bett wickelte und langsam einschlief, war das Anbrechen eines neuen Tages nur eine weitere Selbstverständlichkeit. Doch zwei Tage später findet er sich plötzlich auf den gefrorenen Straßen von Göksun wieder, einer weitgehend zerstörten Stadt, 70 Kilometer von seinem eigenen eingestürzten Haus entfernt, und er und sein Onkel suchen nach Brennholz und Benzin.

Seine Stadt Kahramanmaraş ist kaputt, ein Teil seiner Familie schläft im Auto, der Rest in einem selbstgebauten Zelt aus landwirtschaftlichem Plastik, die Zahl der Todesopfer in seiner Region, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, geht mittlerweile in die Tausende und das auf halbem Weg Bei seinem Satz beginnt plötzlich der Boden zu beben, gleich darauf beginnt auch seine Stimme zu zittern.

„Hast du das gespürt? Das passiert die ganze Zeit. Es geht weiter und weiter.‘

Unwirklich, fügt sein Onkel Mehmet Avci hinzu. All die Pläne, die seine Familie und Freunde für die Zukunft hatten, die plötzlich – peng, auf einen Schlag – unter den Trümmern begraben wurden. Alle Menschen, deren Leben plötzlich zum Stillstand gekommen ist, die aber trotzdem zu den Glücklichen gehören, weil nicht sie, sondern höchstens ihre Nachbarn, Freunde, Eltern oder Kinder gestorben sind.

Die Folgen des Erdbebens, das am Montagmorgen das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien erschüttert hat, wirken am Rande des Katastrophengebiets viel umfassender, als die 7,8 auf der Richterskala vermuten lassen.

Serie von Nachbeben

Das liegt nicht nur daran, dass das Beben das stärkste in der Region seit 1939 war und wahrscheinlich zu den zehn tödlichsten Erdbeben des 21. Jahrhunderts gehört (die Weltgesundheitsorganisation schätzte am Dienstag, dass die Gesamtzahl der Todesfälle leicht 20.000 überschreiten könnte). Das liegt auch daran, dass auf dieses Beben eine beeindruckende Reihe von Nachbeben folgte, von denen das stärkste selbst eine Stärke von 7,5 hatte.

Außerdem lag das Epizentrum in der Nähe von Gaziantep, der türkischen Stadt, die sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten regionalen Zentren für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge entwickelt hat. Viele hunderttausend Flüchtlinge leben in dem betroffenen Gebiet und schätzungsweise vier Millionen Syrer jenseits der Grenze sind auf Nothilfe angewiesen, die normalerweise von Gaziantep aus organisiert wird.

Eine obdachlose Familie aus Göksun flieht mit dem Auto vor der klirrenden Kälte.  Der Motor läuft im Leerlauf, um zu heizen.  Tee wird auf einem Herd zubereitet.  Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Eine obdachlose Familie aus Göksun flieht mit dem Auto vor der klirrenden Kälte. Der Motor läuft im Leerlauf, um zu heizen. Tee wird auf einem Herd zubereitet.Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Hinzu kommt, dass es fast nie die vibrierende Erdkruste ist, die Menschen tötet, sondern herabstürzende Gebäude, und dass gerade in dieser Gegend relativ viele Häuser auf starrem, billigem und wenig erdbebensicherem Beton ruhen. Auch die Straßen hier sind unter normalen Umständen schon moderat, aber jetzt wegen der vielen Risse und Geröll fast unpassierbar. Ständig fällt der Strom aus, das Internet stockt chronisch, die meisten Zapfsäulen sind mittlerweile leer.

Schneestürme

Und dann kommt noch das extreme Wetter dazu. Noch bevor am Montagmorgen die Erde zu beben begann, strich Turkish Airlines wegen der vielen Schneestürme im Land 170 Flüge. Zwei Tage später ist es nur noch kälter geworden. Abends um halb sechs zeigt das Thermometer im Auto schon minus zehn und schneller als 50 Kilometer pro Stunde zu fahren ist wegen des Schneefalls und des eisigen Windes fast unmöglich.

Das Ergebnis: ein logistischer Albtraum mit potenziell dramatischen Folgen. Denn auch die meisten Flughäfen in der Umgebung sind nach der Serie harter Schläge unbenutzbar geworden, und die restlichen Start- und Landebahnen sind für die insgesamt neuntausend türkischen Retter reserviert, die am Montag und Dienstag in das Katastrophengebiet gefahren sind, plus die Retter, die es sind aus fünfzig anderen Ländern eingeflogen, praktisch alle türkischen Straßen von und zu den eingestürzten Städten sind im Chaos.

Lastwagen mit Baggern und Wohnmobilen fahren in einer riesigen Kolonne in die eine Richtung, während Reihen von Personenwagen voller hastig zusammengesammelter Haushaltsgegenstände in die andere Richtung ziehen.

„Wir haben keine Decken, kein Essen, keinen Strom, keine Zelte, kein Benzin. Uns ist einfach kalt“, sagt Serdar, ein 43-jähriger Einwohner von Göksun, der sich entschieden hat, in seiner Stadt zu bleiben und in seinem Auto zu schlafen. Weggehen bedeutet auch, all seine Sachen zurückzulassen. Außerdem lebt auch der Rest seiner Familie in der betroffenen Region, wo müsste er also überhaupt hinfahren?

Roter Lada

Auch seine Nachbarn sitzen seit Montagmorgen im roten Lada, den sie auf dem Bürgersteig vor ihrem teilweise eingestürzten Haus geparkt haben. In dieses Auto passen maximal fünf Personen, was bedeutet, dass immer ein Familienmitglied draußen am Holzfeuer sitzen muss. Um Sprit zu sparen, versuchen sie, die Heizung im Auto nur dann einzuschalten, wenn es drinnen wirklich zu kalt wird. So verändern sie sich im Laufe des Tages, bis vielleicht Hilfe kommt.

Und dann steht seine Stadt immer noch am Rande der Katastrophe, rund 70 Kilometer vom Epizentrum des zweiten Bebens entfernt. Das bedeutet, dass auch hier am Montagmorgen die Decken geöffnet wurden, woraufhin ein Kreidenebel herabregnete. Aber etwas weiter, in Städten wie Kahramanmaraş und Malatya, ist den Erzählungen zufolge eine ganz neue Welt aus fast vollständig dem Erdboden gleichgemachten Städten voller verschwundener Straßen entstanden. Die Bewohner dieser Städte können der klirrenden Kälte nicht in ihren Autos trotzen. Sie erfrieren, während sie unter den Trümmern liegen. Wenn sie nicht schon gestorben sind.

„Wir brauchen mehr Hilfe“, sagt Ferhat und wechselt sich mit seiner inzwischen betäubten Mutter am Holzfeuer vor ihrem Haus ab. „Wirklich viel mehr Hilfe.“



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