Die Kostenbeteiligungsnorm Rutte II vertreibt Jugendliche zu früh aus dem Elternhaus. Rutte IV hat mehr Augen für die Realität als Rutte II.
Und wieder sieht sich Ministerpräsident Rutte gezwungen, eine Maßnahme zurückzunehmen, die vor einigen Jahren noch von einem Kabinett mit seinem Namen erbittert verteidigt wurde. Der Kostenbeteiligungsstandard war von Anfang an eine der umstrittensten Maßnahmen von Rutte II. Die Idee war, dass das Zusammenleben billiger ist als das Alleinleben, weil viele Kosten geteilt werden. Dann wird weniger Nutzen benötigt.
Auf dem Papier war das noch überschaubar, in der Praxis zeigten sich unvorhergesehene Folgen. Anfänglich wurde die meiste Aufmerksamkeit der Wirkung auf die AOW geschenkt. Wer als AOW-Rentner mit dem eigenen Kind zusammenzog, bekam plötzlich eine geringere Leistung. Während das gleiche Kabinett die häusliche Pflege kürzte und zu mehr Achtsamkeit aufrief, hatte die neue Norm eine ganz andere Wirkung: Sie entpuppte sich als Signal für Familien, Pläne für das Wohnen bei ihren bedürftigen Eltern abzusagen. Die Opposition sprach von einer „informellen Sorgfaltsstrafe“, und die Maßnahme wurde von diesem Label nicht entfernt, bis sie zurückgezogen wurde.
Das hat in der Sozialhilfe länger gedauert, aber jetzt ist es soweit: Die Rutte IV weicht den Standard auf, der Kommunen dazu verpflichtet, Sozialhilfeleistungen zu kürzen, sobald Menschen mit Kindern ab 21 Jahren zusammenleben. Die neue Altersgrenze liegt bei 27.
Besser spät als nie, denn auch hier war die Wirkung kontraproduktiv. Sozialhilfeempfänger wurden gezwungen, ihre Kinder zu bitten, das Haus zu verlassen, wenn sie ihren 21. Geburtstag erreichten. Dieser Trend, verbunden mit der enormen Knappheit an bezahlbarem Wohnraum, trug wesentlich zum raschen Anstieg der Zahl junger Obdachloser bei. Agenten, Ärzte und Wohlfahrtsverbände schlugen bald Alarm.
Ministerin Schouten erkennt das Problem und wird per 1. Januar 2023 intervenieren. Eine breite parlamentarische Mehrheit wird sie unterstützen. Bleibt nur zu hoffen, dass die gleiche Mehrheit inzwischen erkannt hat, dass allzu harte Kürzungen der ohnehin stark gekürzten Sozialversicherungen auf dem Papier „streng aber fair“ erscheinen, in der Praxis aber oft anders ausfallen. In der Folge müssen sie allzu oft innerhalb weniger Jahre wieder rückgängig gemacht oder deutlich abgemildert werden. Aber der Schaden ist bereits angerichtet.
Bisher wurde genug experimentiert.
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