Wie die weltberühmten Passionsspiele in Oberammergau vom Antisemitismus infiziert wurden

Wie die weltberuehmten Passionsspiele in Oberammergau vom Antisemitismus infiziert wurden


Aus dem Buch „Passionsspiele“ von Regine Petersen: Eine alte Postkarte, auf der Oberammergauer Laiendarsteller massenhaft auf der Bühne den Hitlergruß zeigen.

Wie Deutschland, inspiriert von der biblischen Kreuzigungsgeschichte, Jahrhunderte lang Judenhass aufbaute, der im Holocaust gipfelte, und wie dieser Mechanismus des Hasses, der Ausgrenzung und der Verfolgung auch eine vermeintlich hochkarätige kulturelle Manifestation wie die veränderte Leidenschaftsspiel infiziert: dass sich Geschichte in faustdicken Bänden erzählen lässt. Aber auch mit alten Postkarten, ein paar Polizeiberichten und Zitaten aus Reisetagebüchern lässt sich der Kern darstellen.

Fast schon nostalgisch wirken die Postkarten, die die deutsche Fotografin und Künstlerin Regine Petersen in ihrem Buch abgedruckt hat Passionsspiel: Szenenfotos von 1900 bis 1960 der weltberühmten Passionsspiele, die seit 1634 alle zehn Jahre im bayerischen Oberammergau aufgeführt werden. Im vergangenen Sommer passierte das zum 42. Mal: ​​Insgesamt mehr als 400.000 Besucher erlebten in dem hangarähnlichen Theater die letzten Tage Christi. Eine Mega-Produktion dank zahlreicher Dorfbewohner: 2022 waren mehr als siebzehnhundert an der Erfüllung der Hauptrollen und an Massenszenen beteiligt.

Über den Autor
Arno Haijtema ist Redakteur bei de Volkskrant und schreibt unter anderem über Fotografie und wie Nachrichtenfotos unser Weltbild prägen.

Die Ursprünge der Passionsspiele reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Oberammergau begann damit, nachdem es der Überlieferung nach auf wundersame Weise von der heimsuchenden Pest verschont blieb. Aus Dankbarkeit beschlossen die Bewohner, Gott alle zehn Jahre mit der Aufführung der Passion zu ehren. Seitdem ist niemand mehr dem Schwarzen Tod zum Opfer gefallen.

Petersen beginnt ihr (englisches) Buch mit dem Reisetagebuch eines Rabbiners, der das Spektakel im Jahr 1900 miterlebte. Er beschreibt die Beteiligung der Dorfbewohner an der Aufführung mit Bewunderung. Vor Beginn der Aufführungen lassen sich die Männer ihre Bärte wachsen, um einen historisch glaubwürdigen Christus oder Judas darstellen zu können. Er stellt auch fest, dass der Rentner, der eine jüdische Rolle spielt, seine Gäste unerwartet gehen sah: Sie wollten nicht in der Pension des Verräters Christi schlafen.

Seine Aussage wird durch Postkarten, Kurznachrichten, Liedtexte aus dem Text unterbrochen Leidenschaftsspiel über Judas. Spannung baut sich auf. 1934, berichtet ein Zeitungsbericht, besucht Adolf Hitler die Leidenschaftsspiel und erklärt sie zum Kulturgut. Auf den Postkarten dieser Ausgabe ist Judas, viel mehr als in älteren Ausgaben, mit fiesem Gesicht und Habichtsnase abgebildet – der jüdische Geldgräber. Seine Gegner – Jesus, Maria Magdalena – entsprechen äußerlich den vom Nationalsozialismus gepredigten arischen Idealen. Alles andere als unschuldig, diese karikaturistische Unterscheidung zwischen diesen nicht existierenden Rassen, aber na ja, solange sich das Spiel auf die Bühne in jenen Jahren des hoch aufflammenden Antisemitismus beschränkt, sind schlimmere Missetaten vorstellbar.

Judas Johann Zwink (1890) mit Geldsack.  Bild

Judas Johann Zwink (1890) mit Geldsack.

Aber dann lesen wir Polizeiberichte. DIN-A4-Seiten (in voller Größe bedruckt und faltbar), auf denen das brodelnde Dorfleben immer mehr Aufruhr zeigt. 1936 ist dem scheinbar einzigen jüdischen Einwohner, dem 1935 zum Christentum konvertierten Komponisten Max Meyer, ein Absatz gewidmet. Er ist mit einem „Arier“ verheiratet: Wenn sie in einer Prozession gehen, wird er wegen seiner Herkunft verspottet. Der Berichterstatter berichtet fröhlich, dass die Ammergauer Zeitung das nationalsozialistische Weltbild strikt einhält und keine Schriften mit „subversivem Inhalt“ verbreitet wurden.

Nach diesem Polizeibericht wird Judas in einem gelben Umhang dargestellt: die Signalfarbe, mit der die Nazis Juden in ein schlechtes Licht rückten. Und mehr Klischees vom Juden, der Beutel mit den Silberstücken immer sichtbarer, sein Blick listiger. Ende September heißt es in einem Bericht, der Jude Meyer lebe sehr zurückgezogen. Über die NSDAP, die NSDAP: keine Zwischenfälle. Es ist der letzte Polizeibericht aus der Vorkriegszeit, in dem Meyer erwähnt wird.

Judas im gelben Umhang.  Bild

Judas im gelben Umhang.

Eine Postkarte aus dem Jahr 1934, auf der die Menge auf der Bühne die Kreuzigung Jesu fordert („An’s Kreuz mit ihm!“), ist der deutlichste Hinweis darauf, wie der Nationalsozialismus Obergammenau erfasst hat: Hunderte Statisten zeigen den Hitlergruß. Dieses Bild bildet auch die Zäsur in der Karikatur: Plötzlich geht es um 1947, um Berichte über Entnazifizierungsprozesse. Jesus auf der Bühne scheint ein „aktiver Nazi II. Klasse“ gewesen zu sein. Alois Lang, ebenfalls Besitzer des gleichnamigen Hotels, erklärt, Anti-Nazi gewesen zu sein, aber aus Angst vor dem Bankrott Hitler-Anhänger geworden zu sein.

Lang ist das Vorbild für die große Nachkriegsverleugnung, doch durfte er 1950 in der ersten Nachkriegsleidenschaft nicht Jesus interpretieren. Auch sein vorgesehener Nachfolger scheint nach Ermittlungen ein Ex-Nazi zu sein. Oberammergau kämpft seit Jahren sowohl mit dem NS-Erbe als auch mit der antisemitischen Charakterisierung von Judas, während die Aufführungen wieder aufgenommen werden. 1970 führt die Organisation noch eine Besucherbefragung durch. Ja-Nein-Fragen daraus: „Ist Ihnen das Spiel antisemitisch aufgefallen?“ Und: „Halten Sie die heftige Kritik der Presse für berechtigt?“ Der Kampf mit der Kriegsvergangenheit ist offenbar noch nicht beendet.

Der Name Max Meyer taucht auch in einem Bericht über ein Entnazifizierungsverfahren auf. Er bezeugt, dass er 1938 zu Hause von einer Gruppe Dorfbewohner misshandelt wurde. Von wem, sagt er, wisse er nicht – die Täter könne er nicht identifizieren. Meyer landete im KZ Dachau, konnte fliehen und nach England fliehen. Als mutmaßlicher deutscher Einwanderer wurde er auf einem überfüllten Schiff nach Australien abgeschoben – eine Höllenfahrt von 57 Tagen. An Bord dieses Schiffes, der Dunera, komponierte er seine Dunera Messe.

Ein Viertel von Petersens faszinierendem Buch ist einem Nachwort gewidmet, in dem ihr visuelles Zeugnis der Alptraum in Oberammergau wird mit Kontext versehen. Glasklar und informativ. Aber es sind diese Postkarten, die altmodisch getippten Polizeiberichte, die kleinen persönlichen Details, die das in Nostalgie getarnte Böse erschreckend nahe bringen.

Passionsspiel von Regine Petersen: 176 Seiten; Die Eriskay-Verbindung; 35 €

Passionsspiel-Bild

Passionsspiel

Nach dem Krieg

In einem im Buch Passionsspiel aufgezeichneten Zeitungsberichten zufolge hat der Oberbürgermeister von Overammergau nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen, alle an der Organisation der Passionsspiele Beteiligten einem Entnazifizierungsprogramm zu unterwerfen. Von den 1.200 teilnehmenden Männern, Frauen und Kindern (wahrscheinlich im Jahr 1934) müssen sich dreihundert für ihre offensichtliche Unterstützung des Nationalsozialismus verantworten, sagte die Zeitung.



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