Wer wird jetzt freiwillig in Italien leben?

Die Rueben sind bei Familie Kneupma fertig
Frank Heinen

Vor ungefähr zehn Jahren übernachteten wir in einem B&B an einem ruhigen Kanal in Venedig. Die Besitzerin beglückwünschte uns zu den wenigen Sätzen rudimentärem Italienisch, die wir als Unterhaltung über sie ausschütteten (‚Siamo dall’Olanda, l’appartamento è molto bello.‘)

Kommt durch unseren Kurs, sagten wir. Falls wir wissen (‚chissa‘) jemals hierher ziehen. Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Freiwillig nach Italien? Sobald ihre Kinder alt genug waren, schickte sie sie sofort (’subito‘) nach London, Berlin oder Amsterdam. Wieder Kopfschütteln. „Urlaub voraus, aber wer will schon in so einem Land leben?“

‚chissa‘sagte ich noch einmal, hauptsächlich wegen des Klangs.

Was auch immer Berlusconi sagte oder tat, so enthusiastisch es einen populistischen Narren nach dem anderen aufnahm, wie unmenschlich Salvinis Anti-Einwanderungspolitik auch wurde, wie hoch die Müllberge in Neapel und Umgebung wuchsen, wie geschmacklos das Fernsehen war, so massiv der Exodus die hohe Bildung und die zutiefst rassistische Behandlung schwarzer Spieler in Fußballstadien, ich konnte nicht umhin, Italien weniger unwiderstehlich zu finden. Wenn ich nicht dort war, wollte ich dorthin gehen und wenn ich dort war, wollte ich nicht gehen.

Dass Italien jetzt das Land von Giorgia Meloni ist, die an diesem Wochenende die Wahl gewonnen hat, eine Veranstaltung, bei der Hilary Clinton bemerkte, dass der Sieg einer Frau ohnehin ein Schritt in die richtige Richtung sei. Lassen Sie Clinton einen aktuellen Klimabericht analysieren und sie stellt fest, dass das Wetter vorerst auch öfter schöner wird.

Darüber, was genau Meloni ist – Faschist, Postfaschist, u neuer Populist oder „ganz rechts“ – wird diskutiert, lange nachdem sich die Grenze des Normalen wieder etwas nach rechts verschoben hat. Das sagte Podcast-Star Francesco Costa Der New Yorker: „Es ist vielleicht nicht faschistisch, aber es ist definitiv beängstigend.“

Gruselig. Zweifellos zu Unrecht, aber Melonis Vorgänger auf der rechten Seite ließen mich an vieles denken, aber selten an „beängstigend“. Berlusconi war schon an der Macht eine Art Artefakt, ein Monument des schlechten Geschmacks. Und jetzt, wo er wiedergewählt ist, wie seine x-te Frau (die letzte in einem Wahlkreis, in dem sie noch nie war), geht er zu TikTok und verteidigt immer noch seinen alten Komplizen Putin, es gibt immer noch kein Gefühl der Bedrohung. Schließlich sieht man hier hauptsächlich einen Pop, der sich aus allen Schwachstellen der italienischen Gesellschaft zusammensetzt. Jarl van der Ploeg (ehemaliger Italien-Korrespondent dieser Zeitung) nannte Berlusconi auf Radio 1 einen alten Zirkus, den man lieber nicht sehen möchte, aber muss. Wenn die Berlusconi-Regierung ein Zirkus war, mit verrotteten Bänken, einem düsteren Nashorn, einem fremdenfeindlichen Clown und einem Zirkusdirektor, der Trapezkünstlern unter die Röcke guckt, leitet Meloni einen frostigen Jahrmarkt mit nostalgischen Nonsens-Aufzeichnungen eines Italiens, das es nie gegeben hat, und Autoscootern die sich nie berühren, weil sie alle rechts abbiegen. Davor fährt Salvini ein bürokratisches Karussell, und rechts neben dem gruseligen Kabinett verteilt Berlusconi kostenlose Zuckerwatte an Großmütter und ihre minderjährigen Enkelinnen. Überall Familien. Viele Kinder. Minderheiten versammeln sich am Tor, sie können nicht eintreten. Wenn sie nur nicht in der Minderheit wären.

Wer will schon auf so einer Messe herumlaufen? Wie lange bleibt so ein gruseliger Freizeitpark in Betrieb? Immer noch regelmäßig – an Regentagen: dreimal täglich – fantasiere ich davon, nach Italien auszuwandern. Und dann höre ich die Stimme der venezianischen B&B-Dame: „Freiwillig nach Italien?!“



ttn-de-23

Schreibe einen Kommentar