Wegen rechter Kurzsichtigkeit steht West nun allein in der Ukraine

Die Rettung des Planeten ist wichtiger als die Rettung der
Thomas von der Dunk

Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Definitionen von Europa gegeben. Lassen Sie mich noch hinzufügen: Europa ist jener Teil der Alten Welt, in dem amerikanische Militärintervention mit Demokratie und Befreiung assoziiert wird.

Über den Autor:

Thomas von der Dunk ist Kulturhistoriker

Eine große Mehrheit der Europäer steht neben Amerika im aktuellen russischen Angriffskrieg, der sich allmählich zu einem Stellvertreterkrieg zwischen West und Ost entwickelt, zu Recht auf der Seite der Ukraine. In einer Hinsicht hat Putin eigentlich Recht: Er kämpft jetzt de facto auch gegen die Nato – aus eigener Kraft.

Weil Putin nur an der Oder Halt machen will, steht hier faktisch die gesamte europäische Ordnung nach 1989 auf dem Spiel. Das macht einen „Kompromissfrieden“ riskant, weil er vom Aggressor als Belohnung empfunden wird – und als Ermutigung, später, wenn das Militär wieder verstärkt ist, unter irgendeinem Vorwand weiter zu expandieren. Insofern hat der ukrainische Freiheitskampf auch für uns einen existenziellen Charakter.

Schließlich hat sich Putin als völlig unzuverlässig und ein guter Hitler-Schüler erwiesen: Garantien sind nichts wert. Deshalb ist es notwendig, dem Kreml jetzt das Genick zu brechen.

Der aktuelle Konflikt wird regelmäßig mit dem Kalten Krieg der 1950er Jahre verglichen, aber wir sind jetzt sowohl deutlich besser als auch deutlich schlechter dran. Deutlich besser: Das heutige Russland ist wirtschaftlich und militärisch ein Schatten der Sowjetunion. Im Gegensatz zu China, dessen Vasallen es immer mehr wird, produziert es nichts Wertvolles, sondern nur Rohstoffe.

Der wesentliche Unterschied: China ist selbstbewusst in der Erwartung, immer mächtiger zu werden – Russland ist selbstbewusst in der Erwartung, immer ohnmächtiger zu werden. Es geht jetzt oder nie um die Wiederherstellung des Russischen Imperiums. Das macht den von Groll getriebenen Putin auch viel gefährlicher als Breschnew – der Kreml war zu seiner Zeit weniger auf Machtausbau als auf Machterhalt aus.

Aber in mancher anderer Hinsicht steht der Westen deutlich schlechter da. Erstens hat sich Betonfäule in eine Reihe von Demokratien eingeschlichen – mit Trumps Amerika an der Spitze. Auch ein oft autokratischer Rechtspopulismus ist zu einer wichtigen Bewegung in Europa geworden, weil der neoliberale Staatsabbau seit 1989 dazu geführt hat, dass viele Bürger – und das nicht ganz zu Unrecht – den Staat nicht mehr als Schutz, sondern als Bedrohung sehen.

Ikonisch für die Niederlande: der Gasskandal und der Zuschlagsskandal. Normale Bürger werden für kleine Fehler hart bestraft, und große Unternehmen werden mit Steuervorbescheiden behandelt. Zudem ist eine gierige Oberschicht von CEOs entstanden, die keine Botschaft an den Rest der Gesellschaft hat.

Aber nicht nur intern – das Vertrauen der eigenen Bürger in das eigene politische System – ist der Westen auch extern geschwächt. Erstens, weil das relative globale Gewicht von Amerika und Europa abgenommen hat. Traditionell blockfreie Länder wie Indien und Indonesien zählten in den 1950er Jahren stärker. Noch wichtiger ist, dass der Westen, abgesehen von Japan und Südkorea (die eine Parallele zwischen den russischen und chinesischen Bedrohungen sehen), im Rest der Welt kaum noch Unterstützung erhält. Auch in dieser Hinsicht zahlen wir den Preis für jahrzehntelange rechte Kurzsichtigkeit.

Die Essenz der lauwarmen Reaktionen ist zweierlei: Wenn wir ein Problem haben, hält sich auch der Westen zurück. Und: Der Westen misst mit zweierlei Maß, das macht ihn heuchlerisch. Wo wir in Europa – und damit komme ich wieder auf meine Definition zurück – die Amerikaner als Befreier sehen, ist das anderswo anders. Washington als Verfechter von Freiheit und Demokratie? Was meinst du?

Nehmen Sie Lateinamerika, wo Amerikas Unterstützung für die Militärdiktaturen der Vergangenheit nicht vergessen wurde – denken Sie an den von der CIA unterstützten Putsch in Chile. Vor allem die Republikaner hatten wenig Skrupel: Um den Interessen amerikanischer Multis zu dienen, wäre eine rechte Diktatur einer linken Demokratie vorzuziehen. Und hielt Thatcher nicht auch Pinochet für einen guten Freund? Der brasilianische Präsident Lula war eines der Opfer. Er will sich jetzt also nicht nur für eine Seite entscheiden. Brasilien zuerst!

Oder nehmen Sie Südafrika. Die ANC-Regierung will sogar den Internationalen Strafgerichtshof verlassen, um Putin zu empfangen. Wer hat damals den Kampf gegen die Apartheid unterstützt? Richtig (nein, nicht aus Selbstlosigkeit, aber das ist zweitrangig). Wer unterstützte das Apartheid-Regime? Stimmt ja. Weil der ANC: das waren dreckige Kommunisten. Heutzutage gibt Rutte auch gerne Mandela an, aber unsere VVD boykottierte früher jeden Boykott, der vom ANC gefordert wurde, weil die Interessen von Shell (auch in Nigeria) an erster Stelle standen. Vielleicht mit allerlei recht stichhaltigen Argumenten, aber dann gilt: erstmal den Mund halten.

Und vor allem die Doppelmoral, die außerhalb des Westens für lauwarme Reaktionen sorgt. Um uns für einen Moment auf VVD und CDA in den Niederlanden zu beschränken (mit vielen Parallelen zu europäischen Schwesterparteien). Demokratie vs. Diktatur? Daraufhin erklärte VVD-Sprecher Hans van Baalen, Sisi habe mit seinem Putsch in Ägypten das Richtige getan. Eine Invasion ohne UN-Mandat? Was halten Sie vom Irak? VVD und CDA unterstützten dies voll und ganz. Illegale Annexion mit Terror gegen die indigene Bevölkerung? Was ist mit der tolerierten israelischen Besetzung Palästinas, die jede Zwei-Staaten-Lösung zur Illusion macht? Viele fromme Worte über die internationale Rechtsordnung der rechten Niederlande – aber Taten: ho.

Na, dann ist es nicht verwunderlich, dass man anderswo sagt: Entschuldigung, das ist nicht unser Konflikt, das können Sie selbst lösen. So schlimm das auch ist.



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