Was bedeutet das freundliche Gesicht von Erdogans Rivalen Kiliçdaroglu für die Welt?

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Kemal Kilicdaroglu mit seiner charakteristischen Handbewegung bei einer Kundgebung am 12. Mai.Bild AFP

In den Umfragen vor der türkischen Präsidentschaftswahl am Sonntag liegt Kiliçdaroglu nun mit mehr als fünf Prozentpunkten deutlich vorne. Im Westen würde ein Sieg des „türkischen Gandhi“ mit Erleichterung begrüßt werden. Unter der Herrschaft des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfiel die Türkei in Richtung Autoritarismus und die Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten verschlechterten sich. Kiliçdaroglu verspricht einen türkischen Frühling: Die Demokratie wird vollständig wiederhergestellt, die Presseschnur wird aufgehoben, politische Gefangene werden freigelassen, Schweden darf der NATO beitreten und die Türkei wird wieder Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union aufnehmen. Darüber hinaus verurteilte Kiliçdaroglu Erdogans Beteiligung an den Bürgerkriegen in Syrien und Libyen.

Über den Autor
Peter Giesen verordnet de Volkskrant über die Europäische Union und die internationale Zusammenarbeit. Zuvor war er Korrespondent in Frankreich. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Wenn Kiliçdaroglu gewinnt, wird der Ton der türkischen Diplomatie freundlicher. Dennoch erwarten die meisten Analysten eine große Kontinuität in der türkischen Außenpolitik unter einer neuen Regierung. Auch Kiliçdaroglu wird die zwiespältige Politik gegenüber Russland fortsetzen. Die Türkei ist Mitglied der NATO, beteiligt sich aber nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland. Es lieferte Drohnen an die Ukraine.

Billiges Benzin

Auf Russland als Handelspartner und Lieferanten von billigem Gas kann die Türkei nicht verzichten. Seit Kriegsbeginn ist der Handel zwischen Russland und der Türkei um 110 Prozent gewachsen. Im vergangenen Monat wurde in der Türkei ein von Russland gebautes Atomkraftwerk eröffnet.

Diese Unklarheit ist tief in der geopolitischen Lage der Türkei verwurzelt, die sich an einem Dreh- und Angelpunkt zwischen Europa, Russland und dem Nahen Osten befindet. Die Türkei sehe, dass der Westen die Kontrolle über die Welt verliere, schreibt der geopolitische Analyst Güney Yildiz im amerikanischen Magazin Forbes. Es kann sich kein schlechtes Verhältnis zum benachbarten Russland leisten, da die Schutzmaßnahmen der USA immer weniger offensichtlich werden.

Auf der Fähre über den Bosporus in Istanbul tanzt eine Frau neben einem Stand der CHP, der Partei des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kiliçdaroglu.  Bild Nicola Zolin für den Volkskrant

Auf der Fähre über den Bosporus in Istanbul tanzt eine Frau neben einem Stand der CHP, der Partei des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kiliçdaroglu.Bild Nicola Zolin für den Volkskrant

Ukrainischer Getreidedeal

In einer multipolaren Welt bietet eine relativ autonome Position mittelgroßen Ländern wie der Türkei oder Brasilien große Vorteile. Sie können mit allen Parteien Handel treiben und größere Länder gegeneinander ausspielen. Darüber hinaus können sie ihren geopolitischen Status erhöhen, indem sie als Vermittler auftreten. Beispielsweise spielte die Türkei eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des Getreideabkommens, das den Transport ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer ermöglichte. Wenn Russland und der Westen aufhören, miteinander zu reden, kann die Türkei als Kommunikationskanal fungieren.

Anders als Erdogan wird Kiliçdaroglu keine verbale Konfrontation mit der EU suchen. Erdogan bezeichnete die deutsche Kanzlerin Merkel als „Nazi“ und stellte die geistige Gesundheit des französischen Präsidenten Macron in Frage. Kiliçdaroglu hat gerade erklärt, dass er zu Europa gehören und die Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union wieder aufnehmen möchte. Die Türkei ist seit 1999 Kandidat, doch 2018 wurden die Verhandlungen eingefroren, weil sich das Land unter Erdogan so stark in eine autoritäre Richtung entwickelte, dass es die Beitrittskriterien nicht mehr erfüllte.

Die Wiederherstellung der Demokratie ist Kiliçdaroglus Hauptanliegen. Er hat versprochen, den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş und den Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala gemäß der Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freizulassen.

Eine demokratische Türkei kann wieder Verhandlungen mit der EU aufnehmen, eine Mitgliedschaft der Türkei ist jedoch nicht in Sicht. Die Türkei steht im Konflikt mit Zypern, wo sich die türkische Bevölkerung im Norden der Insel abgespalten hat. Auch mit Zypern und Griechenland gibt es Streitigkeiten über Öl- und Gasbohrungen im Mittelmeer. Darüber hinaus sind viele EU-Mitgliedsstaaten überhaupt nicht daran interessiert, dass ein relativ armes Land mit 85 Millionen Einwohnern beitritt. Darüber hinaus ist es ein islamisches Land, obwohl dies selten laut ausgesprochen wird.

Erdogan gefiel einigen europäischen Staats- und Regierungschefs durchaus, sagte Galip Dalay von der britischen Denkfabrik Chatham House auf der Nachrichtenseite Politik. Solange der autoritäre Erdogan an der Macht war, mussten sie nicht ernsthaft über eine türkische Mitgliedschaft nachdenken.

Syrische Flüchtlinge

Zudem droht ein neuer Konflikt zwischen der EU und der Türkei. Kiliçdaroglu ist wie Erdogan der Meinung, dass die drei bis vier Millionen syrischen Flüchtlinge die Türkei verlassen sollten. „Was machen sie in unserem Land? „Unsere Kinder können keine Arbeit mehr finden“, sagte Kiliçdaroglu. Im Gegensatz zu Erdogan hat Kiliçdaroglu eine Frist gesetzt. Die Syrer müssen innerhalb von zwei Jahren verschwunden sein. Er will sich darüber mit dem syrischen Präsidenten Assad einigen. Die Rückführung muss größtenteils von der EU finanziert werden. Es ist ein schwierig umzusetzender Plan, aber viele syrische Flüchtlinge werden nach Europa reisen wollen, wenn sie in der Türkei nicht mehr willkommen sind.

Sollte die Opposition entweder am Sonntag oder in der zweiten Runde am 28. Mai gewinnen, wird der Tyrann Erdogan durch das freundliche Gesicht von Kemal Kiliçdaroglu ersetzt. Die Wiederherstellung der Demokratie in einem wichtigen Land wie der Türkei wird dem Westen Auftrieb geben. Doch auch unter Kiliçdaroglu werden die zugrunde liegenden Spannungen zwischen der Türkei, der Europäischen Union und den USA nicht verschwinden.



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