Von diesem kleinen Menschen unter dieser riesigen Decke kroch eine unbestreitbare Kraft: „Ich habe genug“

Von diesem kleinen Menschen unter dieser riesigen Decke kroch eine

Es war schon lange her: Der Pfarrer wurde gerufen, Evas Schwiegermutter wurde bedient.

Eva Höke

Das Telefon klingelte, es war der Mann.
»Meine Mutter wird dieses Wochenende bedient«, sagte er, im Hintergrund Stimmengewirr, Schlurfen wie in einem Büro. Ich hörte, wie ich laut Nein rief. Seltsam – als hätte das nicht lange auf sich warten lassen, als hätten wir nicht schon ewig darauf gehofft, irgendwie etwas Besseres als dieses traurige Leben, das sich immer wieder als trauriger herausstellte. Aber jetzt, wo der Pfarrer gerufen wurde, wurde es plötzlich ernst, und erst dann weiß man, wie es einem eigentlich geht.

Erst als wir an diesem Samstag das Zimmer im Pflegeheim Limburg betraten, sah ich, was meine Schwägerin am Telefon mit 45 Kilo gemeint hatte. Da saß sie, meine Schwiegermutter, 91 Jahre alt, die Brabanterin mit der eisernen Konstitution, die Frau, die eine Operation am offenen Herzen überlebte, Stürze überlebte, ihren Mann überlebte und all ihre vierzehn Geschwister, da saß sie, lag, in einem luxuriösen Rollstuhl, unter einer Decke, am Rande des Lebens hängend. Hat sie uns noch gesehen? Bachs Goldberg-Variationen erklangen aus einem tragbaren CD-Player, und ich dachte natürlich an die Szene Das Schweigen der Lämmer in dem Hannibal Lecter zwei Wachen niedermacht, rote Spritzer auf einem schneeweißen Hemd und dann dieses Klavierspiel und diese Raserei, die Erleichterung macht den Job.

Wir warteten im Kreis auf den Priester. Der menschliche Reflex in solchen Momenten: gedämpfte Stimmen, respektvoll sein wollen, zeigen, dass man sich der Ernsthaftigkeit bewusst ist, aber immer bereit für kleine Perspektiven, Beruhigungen, Nun, Leute, wir sind hier wer will einen Keks. Währenddessen sanken meine Schwiegermutter und ich in ihren Stuhl. Sie lag mit geschlossenen Augen da, manchmal öffneten sie sich für einen Moment. Sie bewegte sich nicht. Ich hatte gelesen, dass ihre Erfahrungen in dieser Phase nur sensorische waren, ohne dass Gedanken oder Emotionen ihnen Bedeutung gaben. Sie konnte Kälte und Hitze oder Lärm oder umgekehrt Ruhe empfinden, aber diese Erfahrungen riefen keine Gedanken mehr hervor. Wichtig war ihr möglichst viele angenehme Empfindungen zu geben und unangenehme Reize zu vermeiden, wie bei einem Baby, vor allem Sicherheit. Er wusste es nicht, aber ihr ältester Sohn tat das Richtige und hielt ihre Hand in seiner. Bald wird es jetzt passieren, ging es mir durch den Kopf.

Der Pfarrer kam, Erleichterung ging durch den Raum. Er hatte eine Flasche Weihwasser bei sich und einen Topf mit Salbe, und aus einem Leinenbeutel kam eine purpurne Stola, die er sich um den Hals hängte. Er freundlich: „Mein Arbeitsoverall.“

Er begann.

Eine ziemliche Geschichte.

Er war mitten im Satz „Und Gott sagt: Wir beten die Kranken an“, als meine Schwiegermutter plötzlich anfing zu sprechen, ganz leise, aber ruhig. Wir spitzten unsere Ohren, und wieder, aber wir verstanden. Von diesem winzigen Menschen unter dieser riesigen Decke kroch eine unbestreitbare Kraft: „Ich habe genug.“

Dann: „Ich will Papa.“

Dringlichkeitstreffen zwischen den Kindern und dem Pfarrer: nur ein Kreuz, dann eilte meine Schwägerin in die Gemeinschaftsküche, um einen Teller Brei zu holen, und wir blieben verwirrt zurück, balancierend zwischen Stolz und Bestürzung. Erst später, im Auto auf dem Heimweg, fragte ich mich, ob sie vielleicht „uns Brei“ gemeint hatte.

Nachdem der Priester gegangen war, sprach niemand mehr.

Regentropfen schlagen gegen das Fenster.

Während meine Schwägerin ihre Mutter mit kleinen Bissen Brinta fütterte, betrachtete ich das Foto auf dem Eichenfernsehschrank. Es war ein Bild von dem Mann und unserer ersten Tochter, am Tag nach der Geburt, sie wie ein rosa Fummel an seiner Schulter, er überwältigt von der Größe des Lebens, wie jetzt.



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