Und wieder ist Schaarbeek wegen Terror in den Schlagzeilen: „Diese Tat ist nicht gut für Muslime“

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Das Café im Brüsseler Stadtteil Schaarbeek, in dem der Täter des Terroranschlags erschossen wurde, wurde am Dienstag durch Polizeischirme verdeckt.Bild Arie Kiewit

Rentner Assi (71) sitzt auf einem Platz an einem Kreisverkehr im Brüsseler Stadtteil Schaarbeek. In der einen Hand hält er eine Zigarette, in der anderen einen Plastikbecher Kaffee. Normalerweise vertreibt er auf dieser Bank jeden Tag die Langeweile, zusammen mit seinen „marokkanischen Brüdern“. Aber heute sieht er besorgt aus. Über die App erhielt er ein Video des Tunesiers Abdesalam L., des Mannes, der am Montagabend zwei schwedische Fußballfans erschoss und einen dritten schwer verletzte.

„Diese Tat ist nicht gut für Muslime und nicht gut für dieses Viertel“, sagt er in gebrochenem Niederländisch. Kürzlich kam es in Schaarbeek, einem Bezirk mit vielen Nationalitäten, zu Auseinandersetzungen. Hinzu kommt dieser Terroranschlag. „Das sollte keinen Hass schüren“, sagt Assi, als er an diesem Dienstagnachmittag auf die Polizeizäune blickt, die von stoisch dreinschauenden Beamten bewacht werden.

Es gibt Journalisten aus allen möglichen Ländern, von Italien bis Amerika. Anwohner verteilen Flaschen Wasser, Kaugummi und Tee, während Journalisten auf weitere Nachrichten warten. Denn hinter den verschlossenen Toren befindet sich Al Khaima (aus dem Arabischen übersetzt: das Zelt), ein beliebtes Café, in dem sich normalerweise vor allem Belgier mit marokkanischen Wurzeln zum Teetrinken und Grillgerichten treffen.

In diesem Café sah ein Zeuge am frühen Dienstagmorgen einen verdächtigen Mann sitzen. Er hätte ihn an seiner leuchtend orangefarbenen Jacke erkannt, der Jacke, die L. auch bei den Übergriffen trug. Kurz darauf drang hier die Polizei ein. Bei der Festnahme wurde L. von einer Polizeikugel getroffen und wenig später im Krankenhaus für tot erklärt. Im Café fand die Polizei außerdem eine Tasche mit Kleidung und der halbautomatischen Waffe, mit der L. am Abend zuvor den Angriff verübt hatte.

Koranzerstörung

Viele Einwohner von Schaerbeek reagieren resigniert auf die Nachricht, dass am Morgen ein möglicher Terrorist aus ihrer Nachbarschaft erschossen wurde. Sie seien daran gewöhnt, sagt der 17-jährige Isam, der sich in der Mittagspause in der Schule schnell ein Sandwich beim Bäcker besorgt. Auch Schaarbeek stand 2016 im Rampenlicht, weil sich dort unter anderem die Täter der Terroranschläge am Brüsseler Flughafen versteckt hielten. „Für uns ist das normal“, zuckt er mit den Schultern.

Unmittelbar nach dem Angriff gab es Spekulationen über das Motiv. Das belgische Justizministerium ging zunächst davon aus, dass L. gezielt Schweden im Visier hatte. Denn: Auch aufgrund einer Serie von Koranzerstörungen in Schweden und den Niederlanden ist die Gefahr eines Terroranschlags in Europa gestiegen. „Mehrere Pro-IS-Kanäle haben über soziale Medien zu Vergeltungsmaßnahmen gegen westliche Länder aufgerufen, darunter explizit Schweden und in geringerem Maße die Niederlande“, schrieb der Nationale Koordinator für Terrorismusbekämpfung und Sicherheit Ende Mai.

Sand und Blumen am Ort des Angriffs.  Bild Arie Kiewit

Sand und Blumen am Ort des Angriffs.Bild Arie Kiewit

Nach dem Angriff veröffentlichte L. außerdem ein Video in den sozialen Medien, in dem er bekannt gab, drei Schweden erschossen zu haben. Er bezeichnete sich selbst als IS-Soldat.

Doch im Laufe des Tages gab die belgische Staatsanwaltschaft bekannt, dass auch der Konflikt in Israel und im Gazastreifen ein Motiv für L. gewesen sein könnte. Auf seinem – inzwischen gelöschten – Facebook-Profil zeigte er Sympathie für die Hamas. Deshalb ist es nach Ansicht des belgischen Justizministeriums noch zu früh, dieses Motiv auszuschließen.

In Belgien illegal

Nach heutigem Kenntnisstand handelte L. allein. Während einer Pressekonferenz am Dienstagnachmittag gab der belgische Justizminister bekannt, dass der Mann, der sich illegal in Belgien aufhielt, „wegen gewalttätigem Extremismus“ nicht im Visier der Sicherheitsdienste sei. L. hatte 2019 in Belgien Asyl beantragt, sein Antrag wurde jedoch ein Jahr später abgelehnt. Dann verschwand er vom Radar.

Dennoch war L. kein Unbekannter im Umgang mit dem Gesetz. Im Jahr 2016 erhielt die belgische Regierung „unbestätigte Informationen“ von einem ausländischen Geheimdienst, dass L. vorhabe, für den Dschihad in ein Konfliktgebiet auszureisen. Laut Justizminister Vincent Van Quickenborne war dies damals nichts Besonderes; In diesem Jahr kam es unter anderem auf dem Brüsseler Flughafen Zaventem und der U-Bahn-Station Maalbeek zu blutigen Anschlägen. „In diesem Zeitraum erhielten wir täglich Dutzende Meldungen.“ „Die Informationen wurden untersucht, es konnte nichts damit gemacht werden.“

Anfang des Jahres geriet L. erneut ins Fadenkreuz der belgischen Justiz. Er soll einen Bewohner eines Asylbewerberzentrums bedroht haben. Das Opfer erstattete Anzeige und gab an, dass L. in Tunesien wegen Terrorismus verurteilt worden sei. Letzteres stellte sich als falsch heraus. Dennoch war für Dienstag ein Treffen der sogenannten „Gemeinsamen Ermittlungsstelle“, ein Expertentreffen zur Erörterung des Profils von L., geplant.

Lehre aus früheren Angriffen

„Die Frage ist: Hätte es anders kommen können“, sagt Van Quickenborne. Ihm zufolge hat Belgien aus den vorangegangenen Anschlägen im Jahr 2016 viel gelernt und in den letzten Jahren konnten mehrere Anschläge abgewendet werden. „Aber wir werden uns selbst kritisch betrachten, die Wahrheit muss ans Licht kommen.“

Im Stadtteil Schaerbeek verschwanden am Ende des Nachmittags die Zäune am Café Al Khaima. Ebenso wie die Agenten und der Großteil der Presse. Die Fensterläden des Cafés sind geschlossen. So leblos das Café aussieht, so belebt ist es zwei Türen weiter. Beim Herrenfriseur hört man das Summen eines Rasierers. Das Geschäft war auf Anordnung der Polizei ganztägig geschlossen und darf nun wieder öffnen. Auf die Frage, ob er etwas zu den Ereignissen der letzten 24 Stunden sagen möchte, antwortet der Friseur mit misstrauischem Blick. Er scheint es vorzuziehen, nichts davon zu wissen. ‚Skala? Welcher Angriff?‘



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