Damit hat das Verwaltungsgericht das Urteil gefällt, das die meisten Juristen bereits vorhergesagt hatten und das Kabinett und Baubranche befürchteten: Die bei Bauarbeiten freigesetzten temporären Stickstoffemissionen dürfen nicht einfach ignoriert werden. Dem Antrag auf Baugenehmigung muss fortan eine Stickstoffberechnung beigefügt werden, in der die Folgen der Emissionen auf die nahe Natur berechnet werden. Nur wenn die Berechnung ergibt, dass keine Naturschäden vorliegen, darf die Genehmigung erteilt werden. Im Schadensfall muss der Auftragnehmer oder Projektentwickler die schädlichen Emissionen mit Stickstoffplatz aus der nationalen Stickstoffbank kompensieren. Oder er muss selbst für den benötigten Stickstoffraum sorgen.
Das Urteil des Staatsrates betrifft eine Klage der Umweltorganisation Mobilisation for the Environment (MOB) gegen den Wirtschaftsminister. MOB focht eine Baugenehmigung an, die für ein großes Klimaprojekt im Rotterdamer Hafen erteilt wurde. Vier Gas- und Ölproduzenten im Botlek-Gebiet wollen insgesamt 37 Megatonnen ihrer Treibhausgasemissionen auffangen und über eine lange Pipeline zu leeren Gasfeldern unter der Nordsee transportieren. Dieses Porthos-Projekt erfordert unter anderem den Bau einer Kompressorstation auf der Maasvlakte. Die Bauarbeiten führen zu Stickstoffniederschlägen an vier Natura 2000-Gebieten.
2019 war MOB auch Klägerin im Prozess um den Programmatic Approach to Nitrogen (PAS). Das PAS-Urteil war der Auslöser für die nationale Stickstoffkrise, weil es das Kabinett zwingt, die nationalen Stickstoffemissionen drastisch zu reduzieren. Seit diesem Urteil vom 29. Mai 2019 muss die Regierung bei allen neuen Wirtschaftstätigkeiten prüfen, ob sie Stickstoffniederschläge auf gefährdete Natur verursachen. Können Schäden an der Natur nicht ausgeschlossen werden, muss der zusätzliche Stickstoffeintrag durch Maßnahmen kompensiert werden, die den Stickstoffniederschlag im selben Naturschutzgebiet reduzieren.
Stickstofffreistellung für die Bauphase
Um zu verhindern, dass der Bau aufgrund fehlender Stickstoffflächen weitgehend zum Erliegen kommt, hat das Parlament im Juli 2021 eine Stickstoff-Ausnahmeregelung für die Bauphase in das Gesetz aufgenommen. Diese Bestimmung bedeutet, dass der bei Bauarbeiten freigesetzte Stickstoff keine Schäden an der Natur verursacht und daher nicht kompensiert werden muss. Da Bauarbeiten per Definition vorübergehend sind, können sie laut Regierung keine langfristigen Auswirkungen auf die Qualität der Natur haben.
MOB ist anderer Meinung. Laut der Umweltorganisation sollte die Regierung nicht davon ausgehen, dass es durch Bauarbeiten niemals zu Naturschäden kommen wird. Die temporären Emissionen eines einzelnen Projekts mögen sehr gering sein, die kumulativen Emissionen von Tausenden von Bauprojekten im ganzen Land sind es jedoch nicht. Darüber hinaus erlaubt die europäische Habitat- und Vogelschutzrichtlinie laut MOB keine Ausnahmen für „vorübergehende“ Emissionen.
Das Verwaltungsgericht schließt sich insoweit nun der MOB an. Klimaminister Rob Jetten erwartete das Urteil mit klammen Händen. Das Projekt Porthos soll einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele für die Industrie leisten. Wenn sich dieses Projekt verzögert, werden diese Ziele gefährdet. Auch der Bau von Wind- und Solarparks dürfte sich verzögern. Dies gilt auch für Wohnprojekte. Die Baubranche warnte im Vorfeld vor größeren Verzögerungen bei der Baubeauftragung, falls der Richter die Freistellung verweigern sollte.
Der Vorsitzende der Abteilung für Verwaltungsgerichtsbarkeit, Bart Jan van Ettekoven, versuchte, die Folgen des Urteils zu nuancieren, indem er sagte, dass es nicht zu einem nationalen Baustopp führen werde. Doch die Verpflichtung, bei jedem Bauvorhaben eine Stickstoffanalyse durchzuführen, wird nach Ansicht der Bauwirtschaft sicherlich zu erheblichen Verzögerungen führen. Es besteht ein ernsthafter Mangel an Experten, die solche Stickstoffberechnungen durchführen können.
Zwischenurteil
Das Urteil vom Mittwoch ist ein Zwischenurteil. Die Antragsteller des Porthos-Projekts hätten die jetzt geforderte Stickstoffberechnung während des Gerichtsverfahrens vorgelegt, sagte Van Ettekoven. Es kam jedoch zu spät, um im Verfahren berücksichtigt zu werden. MOB hat nun sechs Wochen Zeit, um auf diese Berechnung zu reagieren. Danach wird der Staatsrat eine endgültige Entscheidung treffen, aber diese endgültige Entscheidung über Porthos ändert nichts mehr an der allgemeinen Baufreistellung: Sie wurde jetzt vom Gericht endgültig verworfen.