„Erleben Sie die letzten Spiele der Saison in einem Vulkan.“ Etwas überflüssig wirken die Schilder mit solchen Werbetexten rund um das Stadion von Olympique Marseille. Marseille weiß seit langem, dass das Stade Vélodrome eines der einschüchterndsten Stadien Europas ist. Fast jeder Bewohner ist schuld, L’OM lebt in allen Herzen, ist in aller Munde. Feyenoord muss vor dieser Kulisse am Donnerstagabend eine 3:2-Führung verteidigen, um das Endspiel der Conference League zu erreichen.
Feyenoord beeindruckte letzte Woche in den französischen Nachrichten in De Kuip mit halb langem Offensiv-Druckfußball und halb präzisem Defensivspiel, übrigens in einer ebenso glühenden Atmosphäre. Doch in der südfranzösischen Hafenstadt herrscht weiterhin großes Vertrauen in einen guten Ausgang für L’OM.
Trainer Sampaoli werde jetzt wohl bessere Spieler konstruieren und gleich die richtige Taktik anwenden, lautet der Tenor. „Und natürlich ist da die Atmosphäre, da kann niemand mithalten“, sagt der Besitzer eines Süßwarenstands auf dem Boulevard Michelet, wo sich das Vélodrome befindet.
Am Tag vor dem Spiel ist es noch recht ruhig, aber am Donnerstag entsteht hier ein alternativer Markt mit Dönerbuden und L’OM-Schnickschnack, früh füllt ein Feuerwerk den Himmel.
Phänomenale Aussicht
Diejenigen, die keine Karte bekommen konnten – Feyenoord erhielt mehr als 3.200 für seine eigenen Fans, von denen die meisten gestern bereits ihr Bier im schönen alten Hafen genossen haben –, würden gut daran tun, den Hügel zu erklimmen, auf dem sich die Basilika Notre-Dame de La Garde befindet. Der Blick von dort auf das beleuchtete Stadion mit dem lichtdurchlässigen Dach ist phänomenal.
Feyenoord spielt an der Stelle, an der die „Ultra“-Fankultur teilweise entstanden ist. Ultra steht in diesem Zusammenhang für ultra fanatisch. Es sollte nicht mit Hooliganismus verwechselt werden, obwohl es unter den Ultras Hooligans gibt. Frankreichs erste Ultragruppe, Commando Ultra 84, hat einfach ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse auf ihrer Website. Jeder mit Sympathie für Olympique Marseille ist willkommen. Letztes Wochenende beleuchtete eine andere Ultragruppe, South Winners, die Innenstadt ungestört mit Feuerwerk. Olympique spielte bereits ein orangefarbenes Auswärtstrikot, um ein Jubiläum der South Winners zu feiern.
Olympique ist für die Marseillais eine Form des Eskapismus. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, viel Drogenbelästigung und man läuft buchstäblich in die Armut. Armenviertel liegen zwischen touristischen Hotspots. Die Kontraste sind überall. Wer die Aussicht vom Bahnhof Saint-Charles genossen hat, begegnet am Fuß der von schönen Statuen und Laternen gesäumten Treppe sofort einem Kleinkind auf einer schmuddeligen Matratze, daneben eine Frau mit verständnislosem Blick.
Viele verschiedene Kulturen
In der Hafenstadt am Mittelmeer gibt es viele unterschiedliche Kulturen und Kultstätten, doch in der Unterstützung von L’OM herrscht ein geschlossenes Denken. Obwohl es in den letzten Jahren leistungsmäßig im Schatten des genügsamen, heftig verhassten Paris Saint-Germain stand, präsentiert sich L’OM als der wahre Folk-Club. Dies drückt sich in den Märschen aus, letzte Woche auch durch das Herz von Rotterdam, von singenden Fans hinter einem meterbreiten Banner zum Stadion, den vielen Feuerwerken und den riesigen Transparenten.
In einem Trikot der gegnerischen Mannschaft anzukommen, ist keine gute Idee, obwohl ein Junge aus Brabant in einem Feyenoord-Trikot am Tag vor dem Spiel problemlos das Vélodrome bewundern kann.
Es gibt viele verschiedene Ultra-Gruppen, die Babyblau und Weiß fördern, aber der Zusammenhalt ist groß. Solidarität ist den überwiegend links orientierten Ultras wichtig. Als Publikumsliebling Dimitri Payet im Viertelfinale gegen PAOK vom Ast geschleudert wurde, folgte von allen Seiten eine Feuerpfeilsalve auf die griechischen Fans. Zur Strafe bleibt die Virage Nord, die Tribüne hinter einem der Tore, leer, aber die Virage Sud ist nach Möglichkeit noch feuriger.
Der ehemalige Feyenoord-Spieler Luigi Bruins nennt das einzige Spiel, das er im Vélodrome bestritt, das vielleicht intensivste seiner Karriere. Damals spielte er beim Regionalrivalen Nizza und sorgte mit einem Kopfball für den Führungstreffer. „Das Stadion wurde damals renoviert, war also nicht voll, aber es ging trotzdem unglaublich weiter.“
Bis auf die Knochen
Die Tribünen sind ultrasteil und haben ein Wellenmuster. „Das Geräusch trifft dich überall und ging durchs Mark. Ich fand es wunderbar.“
„Olympique ist eine Religion für sich“, sagte der ehemalige Spieler Eric Cantona. Überall wehen die Fahnen, man sieht Jungen und Mädchen in Trainingsanzügen. Diese Trainingsanzüge sieht man auch in Rotterdam, weiß Bruins. „Das sind oft algerische und marokkanische Jungen. Straßenjungen. Sie identifizieren sich sehr mit diesem Verein.“
Einen Tag vor dem Halbfinale konzentrierte sich die französische Presse ganz auf Real-Chelsea mit dem französischen Stürmer Benzema und die Vereinszukunft von Pogba und Mbappé. Nur auf Seite 8 der größten Sportzeitung L’Equipe war eine Art Vorschau. Es sagt etwas über das Ansehen der Conference League in Frankreich aus.
Wie anders ist das doch in den Niederlanden, allein angesichts der vielen niederländischen Medienvertreter, die nach Marseille gereist sind. Auf der Pressekonferenz bombardierten sie Feyenoord-Trainer Arne Slot mit Fragen zur Atmosphäre im Vulkan. Er blieb offenbar ruhig. „Wir haben neun Monate damit verbracht, uns auf Spiele wie dieses vorzubereiten. Fans gehören dazu, aber das Spiel wird auf dem Feld entschieden, da müssen wir die richtigen Entscheidungen treffen. Sie wechseln oft die Positionen und haben gute Spieler.‘
Darüber spricht er lieber mit seinen Männern, denen noch die Kapitäne Toornstra und Bijlow fehlen. „Wir haben bereits in fanatischen Stadien gespielt, natürlich zu Hause, aber auch auswärts.“ Der Süßwarenverkäufer reibt sich die Hände, wenn es um die Ohren geht. „L’OM, das ist wirklich etwas anderes.“