Russische Propaganda mit Gesichtserkennung toter Soldaten durchbohren: Ist das nicht ein Schritt zu weit?

Russische Propaganda mit Gesichtserkennung toter Soldaten durchbohren Ist das nicht


Ukrainische Soldaten stehen neben den Leichen russischer Soldaten in der Nähe der Stadt Trostsyanets, 400 Kilometer östlich von Kiew.Statue Efrem Lukatsky / AP

Was ist Clearview KI für Unternehmen?

Die Idee hinter dem amerikanischen Tech-Unternehmen ist scheinbar einfach: Eine möglichst große Datenbank mit Gesichtern zusammenstellen und darauf eine Gesichtserkennungssoftware ausführen. Diese Datenbank, die aus Milliarden von Bildern besteht, stammt aus sozialen Medien mit zugehörigen Daten wie Vor- und Nachnamen. Jeder, der sein Foto auf Facebook, LinkedIn oder anderen sozialen Medien hat, hat wahrscheinlich einen Platz in dieser Clearview-Datenbank. Schritt zwei ist der Abgleich mit anderen Fotos, zum Beispiel von einer Überwachungskamera. Wer ist das Gesicht auf diesem Foto? Clearview liefert die Antwort.

Das Unternehmen wurde 2017 von Hoan Ton-That und Richard Schwartz mit Unterstützung des Silicon-Valley-Milliardärs Facebook-Investor und Donald-Trump-Unterstützer Pieter Thiel gegründet. Es blieb lange Zeit unter dem Radar, bis Twitter im Januar 2020 vor Gericht zog und Clearview anordnete, alle Daten seiner Nutzer zu löschen. Später forderten YouTube und Facebook dasselbe. Auch Ermittlungsdienste und Polizei sind Fans des Softwareunternehmens. Sie lieben die Möglichkeiten und die Benutzerfreundlichkeit.

Was soll die Ukraine mit dieser Software machen?

Die Datenbank, die mittlerweile mehr als zehn Milliarden Fotos umfasst, enthält mehr als zwei Milliarden Fotos von Russen, die von VKontakte kommen. Dies ist die weit verbreitete Alternative zu Facebook in Russland. Anfangs ging es vor allem darum, Russen an Checkpoints zu identifizieren, später stellte sich heraus, dass die Software zur Identifizierung gefallener russischer Soldaten eingesetzt werden konnte. Nach jüngsten Berichten in Die Washington Post Ukrainische Behörden haben jetzt die Datenbank mit den Gesichtern von mehr als 8.600 gefallenen Russen erstellt. Eine von der ukrainischen Regierung angeführte Gruppe von Hackern und Aktivisten informierte daraufhin die Familien von 582 Russen über den Tod ihres geliebten Menschen und schickte ihnen Fotos der Leichen. Damit wollen sie die russische Propaganda im eigenen Land punktieren. Die Ukraine kann die Software kostenlos nutzen, nannte es Clearview-Gründer und Vorstandsvorsitzender Hoan Ton-That zuvor „eine Ehre“, dem Land auf diese Weise helfen zu können.

Funktioniert das gut?

Die Software arbeite sehr genau, versichert sich Clearview. Die Suchmaschine für Gesichter wäre in 99 Prozent der Fälle geben die richtige Antwort. Doch selbst dieser hohe Prozentsatz ist für Experten problematisch. „Wenn die Gesichtserkennung in Friedenszeiten Fehler macht, werden Menschen zu Unrecht festgenommen“, sagt Cyberexperte und Anwalt Albert Fox Cahn vor dem amerikanischen Magazin Forbes† „Aber wenn sie im Krieg Fehler macht, werden Unschuldige erschossen.“ Er nennt den Einsatz der Technologie eine „potenzielle Menschenrechtskatastrophe“. Andere befürchten, dass die Idee, russische Familien mit Fotos der Leichen ihrer Angehörigen zu konfrontieren, nach hinten losgehen und den Hass auf die Ukraine verstärken wird.

Gibt es noch mehr Gefahren?

Die New York Times Vor zwei Jahren nannte Clearview „das geheimnisvolle Unternehmen, das manchmal … kann die Privatsphäre beenden wie wir es bisher kannten‘. Datenschützer und Bürgerrechtsorganisationen sind daher sehr besorgt. Kriegsgebiete werden oft als Testgelände genutzt, nicht nur für Waffen, sondern auch für Überwachungsinstrumente, die später an der Zivilbevölkerung eingesetzt werden. warnt zum Beispiel Evan Greer von der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation Fight for the Future. Sie plädiert für ein weltweites Verbot des Einsatzes von Gesichtserkennungstechnologie im öffentlichen Raum und verweist unter anderem auf China, wo diese Technologie zur Unterdrückung von Minderheiten eingesetzt wird.

Clearview selbst steht in verschiedenen Ländern unter der Lupe. In den USA sind Klagen gegen das Unternehmen anhängig, während in Kanada, Großbritannien, Frankreich, Australien und Italien die Verwendung von Fotos ohne ausdrückliche Zustimmung von Personen bereits für illegal erklärt wurde. Anfang dieses Monats verhängte die italienische Datenschutzbehörde Clearview eine Geldstrafe von 20 Millionen Euro. Die Art und Weise, wie Clearview Daten sammelt, widerspricht der europäischen Datenschutzgesetzgebung.

Was ist mit Clearview in den Niederlanden?

Es besteht kein Zweifel, dass es auch Niederländer mit ihren Gesichtern und den dazugehörigen Daten in der Clearview-Datenbank gibt: Clearview durchforstet so viele soziale Medien wie möglich auf der Suche nach Material. Doch anders als etwa in Italien hat sich die Datenschutzbehörde noch nicht zu Clearview geäußert. Das überraschen von der Bürgerrechtsorganisation Bits of Freedom: „Obwohl sich die niederländische Datenschutzbehörde gegen den rechtswidrigen Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie ausspricht und ein Verbot dieser Technologie fordert, schweigt sie peinlichst über Clearview AI.“

Die niederländische Polizei hat immer bestritten, Clearview-Kunde zu sein, obwohl die amerikanische Nachrichtenseite Buzzfeed im vergangenen Jahr enthüllte, dass die Polizei es fünfzig bis hundert Mal benutzte.



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