Rekordzahl von Physiotherapeuten kündigt: „Vielleicht sollte ich anfangen, Kurse zu füllen“

Rekordzahl von Physiotherapeuten kuendigt „Vielleicht sollte ich anfangen Kurse zu


Physiotherapeutin Anita Betten mit einer Klientin in ihrer Amsterdamer Praxis. „Vielleicht sollte ich mich entscheiden, den Beruf aufzugeben.“Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Es ist Donnerstagabend und Anita Betten weint am Computer. Zu viele Hiobsbotschaften: eine Steuernachveranlagung und die Erkenntnis, dass ihr Einkommen vorerst nicht steigen wird. Betten (40) ist Physiotherapeut und unterstützt Menschen mit Krebs. Sie hilft Patienten, fit genug zu werden, um eine schwere Chemotherapie oder Operation zu überstehen. „Je fitter die Leute mit einem solchen Prozess beginnen, desto fitter werden sie daraus hervorgehen. Sie erleiden weniger Komplikationen und benötigen weniger Medikamente.“ Wunderbare Arbeit, aber: „Vielleicht sollte ich anfangen, die Regale bei Albert Heijn zu füllen. Mein Einkommen ist seit fünfzehn Jahren gleich.“

Das wird auch 2023 so bleiben. An jenem Donnerstag, als Betten in Tränen ausbrach, gaben die ersten Versicherer ihre Tarife für das nächste Jahr bekannt: Sie lagen deutlich unter der Höhe, auf die Betten gehofft hatte. Mittlerweile ist klar, dass die Versicherer ihre Raten um durchschnittlich weniger als 5 Prozent anheben und damit deutlich unter dem aktuellen Inflationsniveau liegen.

Das bedeutet, dass Betten sicherlich nicht die einzige Physiotherapeutin ist, die Zweifel an ihrer Zukunft hat. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab eine Rekordzahl von 275 Physiotherapie-Praxen auf. „Wir geraten jetzt in eine Situation, in der die Daseinsberechtigung des Physiotherapeuten bedroht ist“, sagt Guido van Woerkom, Vorsitzender der Königlichen Niederländischen Gesellschaft für Physiotherapie (KNGF). Denn nicht nur gehen mehr Physiotherapeuten in den Ruhestand, sie gehen auch früher in den Ruhestand. Vor drei Jahren übte ein Physiotherapeut den Beruf durchschnittlich zwölf Jahre aus, bevor er etwas anderes anfing. Dieser Durchschnitt liegt jetzt unter elf Jahren. Junge Physiotherapeuten hören sogar nach drei bis vier Jahren auf.

Rolle der Krankenkassen

Schuld sind alle die Krankenkassen, sagen die Physiotherapeuten. Die Preise für eine halbe Stunde Physiotherapie sind so niedrig, dass sie gar nicht durchgeführt werden können, sagt Van Woerkom. Im Jahr 2019 stellte ein unabhängiger Bericht fest, dass die Kosten für Physiotherapie etwa 20 Prozent höher waren als die von den Krankenkassen gezahlten Sätze. „Die Krankenkassen haben zwischenzeitlich keine nennenswerten Schritte unternommen, obwohl wir das vereinbart hatten.“

Und in diesem Jahr werden Physiotherapeuten auch mit Mieterhöhungen von 10 Prozent konfrontiert, mit Energiekosten, mit Mitarbeitern, die mehr verdienen wollen, um die Inflation zu bewältigen. Alles in allem, sagt Van Woerkom, sollen die Krankenkassen jetzt 43 Euro pro halbe Stunde bezahlen. Davon sind sie weit entfernt: Die Tarife schwanken zwischen 31 und 35 Euro. „Dann geht etwas kaputt im Beruf.“

Physiotherapeut Betten: „Mein Einkommen ist seit fünfzehn Jahren gleich.“  Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Physiotherapeut Betten: „Mein Einkommen ist seit fünfzehn Jahren gleich.“Bild Guus Dubbelman / de Volkskrant

Um über die Runden zu kommen, arbeite Betten 11 Stunden am Tag, sagt sie. Sie arbeitet in einer multidisziplinären Praxis und erhält 65 Prozent ihres Umsatzes: etwa 20 Euro pro halbe Stunde. „Aber ich muss auch meine Rente, meine Berufsunfähigkeitsversicherung und die Steuern davon bezahlen.“ Freunde, die kürzlich damit begonnen haben, ihr Haus zu renovieren, waren von diesem Stundensatz schockiert, sagt sie. „Es ist viel weniger als ein Stuckateur oder Maler. Sie hatten keine Ahnung, dass Physiotherapeuten stille Arme sind.“

Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Mehr Physiotherapeuten als je zuvor haben möglicherweise aufgehört, weitere Praxen kommen noch hinzu. Von 9.000 im Jahr 2013 auf jetzt über 14.000, so die Zahlen der Handelskammer. Das liege daran, sagt der KNGF, dass sich immer mehr Physiotherapeuten selbstständig machen, um mehr Stunden arbeiten zu können. Die Gesamtzahl der Physiotherapeuten bleibt gleich.

Zukunftssicher

Nach der unabhängigen Untersuchung, so ein Sprecher des größten Krankenversicherers, Zilveren Kruis, „wurden Vorkehrungen getroffen, wonach die Krankenversicherer die Tarife schrittweise erhöhen und die Physiotherapeuten ihrerseits Maßnahmen ergreifen, um die Kosten zu senken und die Effizienz zu steigern“. Zum Beispiel durch Gruppensitzungen oder Online-Physiotherapie. Aber, so der Sprecher, „wir sehen unzureichende Ergebnisse“.

Auch der Versicherer VGZ versucht nach eigenen Angaben Vereinbarungen mit Physiotherapeuten zu treffen, um die Physiotherapie „zukunftssicher“ und bezahlbar zu halten. Leider, schreibt ein Sprecher, „hat dies noch nicht zu greifbaren Ergebnissen geführt“. Und auch Versicherer müssen an ihre Kunden denken. Der Sprecher von Silver Cross: „Unsere Versicherungsnehmer sind auch von der Inflation und den Energiekosten betroffen.“

Die Verhandlungsposition der Physiotherapeuten sei daher „nicht zu stark“, sagt Marco Varkevisser, Professor für Marktregulierung im Gesundheitswesen an der Erasmus-Universität in Rotterdam. „Wenn die Berufsgruppe über die Tarife klagt, aber gleichzeitig das Angebot an Physiotherapeuten gleich bleibt, dann haben sie keinen starken Trumpf auf dem Tisch. Anscheinend kann man davon noch leben.«

Zudem sei die Physiotherapie größtenteils nicht in der Grundversicherung enthalten und habe daher für diesen Teil keine gesetzliche Fürsorgepflicht, sagt Varkevisser. ‚Das erhöht die Möglichkeiten für scharfe Verhandlungen noch weiter.‘ Das müssen sie, sagt der Professor, sonst würden nur die Patienten Zusatzversicherungen abschließen, die die Physiotherapie am dringendsten brauchen, was zu höheren Prämien gerade für die schwächste Gruppe führen würde. „Auch das ist ein Dilemma, mit dem die Krankenkassen zu kämpfen haben.“

Es gibt wirklich nur eine Lösung, um dieser Spirale zu entkommen, sagt Van Woerkom. „Letztendlich ist es für das Gesundheitssystem am besten, wenn die Physiotherapie wieder im Basispaket enthalten ist. Nun bestimmt die Art der Versicherung eines Patienten allzu oft die Behandlung in der Arztpraxis. Sind Sie zusätzlich versichert?, fragt der Arzt. Wenn ja, dann zum Physio, wenn nicht, dann zum teuren Facharzt im Krankenhaus, der erstattet wird. Das passiert in den Niederlanden mehrmals stündlich.“ Das Zorginstituut untersucht, ob die Übertragung des Physiotherapeuten auf das Basispaket eine gute Idee ist.

Für Anita Betten könnte diese Entwicklung zu spät kommen. „Vielleicht sollte ich mich entscheiden, den Beruf aufzugeben. Und das finde ich so unfair, weil ich den Beruf so schön finde.“



ttn-de-23

Schreibe einen Kommentar