Ministerpräsident Orbán sagt, Ungarn könne diesem Sanktionspaket nicht zustimmen. Warum nicht?
Der Stopp des Imports von russischem Öl sei eine „Atombombe auf die ungarische Wirtschaft“, sagte Orbán. Nach Angaben der Regierung bezieht Ungarn 65 Prozent seines Öls aus Russland über die Druschba-Pipeline aus Russland. Da das Land nicht am Meer liege, sei eine alternative Ölversorgung per Schiff keine Option, teilte die ungarische Regierung mit. Am Mittwoch sagte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó, er wolle eine vollständige Ausnahme von Pipeline-Öllieferungen, nachdem Ministerpräsident Orbán zuvor eine fünfjährige Übergangsfrist gefordert hatte.
Ungarn hat eine andere Option, die Adria-Pipeline. Sie verläuft bis zur kroatischen Küste, wo das Öl per Schiff ankommt. Da sich der Verarbeitungsprozess dieses Öls jedoch von dem russischen Öl unterscheidet, mit dem ungarische Raffinerien normalerweise arbeiten, erfordert dies technologische Innovation. Laut den Ungarn ist das mit einem saftigen Preisschild verbunden. Der Mineralölkonzern MOL, an dem der ungarische Staat Großaktionär ist, beziffert die Kosten auf 480 bis 670 Millionen Euro.
Zudem ist Ungarn nicht das einzige Land, das Einwände gegen das ambitionierte Sanktionspaket geäußert hat. Auch Tschechien und die Slowakei haben keinen Zugang zum Meer und sind ebenfalls auf die Druschba-Pipeline angewiesen. Die Slowakei bezieht sogar 95 Prozent ihres Öls aus Russland. Diesen Ländern wird die EU-Kommission nach vorläufigen Planungen entgegenkommen: Statt der ursprünglichen Übergangsfrist von sechs Monaten soll Tschechien bis Juni 2024 umstellen, die Slowakei und Ungarn bis Ende 2024. Doch das reicht nicht weit genug für Orbán.
Ist der wirtschaftliche Schaden wirklich so groß, wie die ungarische Regierung prognostiziert?
Laut Experten ist diese „Atombombe“ nicht so schlimm. Die wirtschaftliche Notwendigkeit des russischen Öls werde von Orbán übertrieben, sagte Wojciech Konończuk, stellvertretender Direktor des Zentrums für Oststudien in Warschau. „Es ist eine Frage des politischen Willens.“ Grundsätzlich ist es möglich, innerhalb von zwei Jahren mit russischem Öl aufzuhören, auch für Ungarn. Die technologischen Möglichkeiten sind da, ebenso wie eine alternative Quelle: die Adria-Pipeline. „Wenn Ungarn nur die Druschba-Führung hätte, wäre das eine andere Geschichte.“
Milan Nic, wissenschaftlicher Mitarbeiter Mitteleuropa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, betont die Bedeutung des politischen Willens. Aber wir sollten Ungarns wirtschaftliche Realität nicht auslöschen. „Orbán hat sein Wirtschaftsmodell viel mehr als die Tschechische Republik und die Slowakei auf Öl gegründet.“ MOL ist unter Orbán zum Flaggschiff der ungarischen Wirtschaft geworden. ‚Der Gewinn von MOL ist wichtig für Ungarn.‘ Und ohne billiges russisches Öl ist diese Gewinnspanne in Gefahr.
Orbán verdankt seine Popularität teilweise den niedrigen Energiekosten durch staatliche Regulierung. Seit November gilt zudem ein Preisstopp für Benzin. Während des Wahlkampfs im April bekräftigte Orbán, dass einfache Ungarn nicht die Kosten des Krieges in der Ukraine tragen sollten. Den Preis künstlich niedrig zu halten, wird MOL tonnenweise Geld kosten, wenn das Unternehmen auf Öl aus Russland verzichtet, das etwa ein Drittel billiger ist als Öl aus anderen Quellen. Orbán sucht nicht nur nach einer Finanzierung für den Übergang, sondern will diesen Preisunterschied so lange wie möglich monetarisieren.
Die ungarische Wirtschaft als solche sei weniger gefährdet, als Orbán der Welt glauben machen möchte, sagt Nic. „Das kostengünstige Wirtschaftsmodell, mit dem Orbán regiert, ist bedroht. Er will nicht mit russischem Öl aufhören, und wenn es sein muss, denkt er, dass die EU dafür bezahlen sollte.“ Die Ungarn haben am Mittwoch ihre Einsätze im politischen Pokerspiel mit der Europäischen Kommission erhöht. Durch Minister Szijjártó sagen sie jetzt, dass sie „Hunderte Millionen Dollar“ wollen. Ein ungarisches Veto gegen das Sanktionspaket wäre historisch, da Orbán zuvor Sanktionen gegen Russland nicht blockiert hat. Der Forscher Nic erwartet, dass irgendwann eine Einigung erzielt wird. „Die große Frage ist: Wie viel wird es kosten?“
Steckt noch etwas anderes hinter Orbáns Strategie?
Orbán will seine Haut in Brüssel teuer verkaufen, und das hat mit dem Mangel an anderen EU-Geldern zu tun. Die EU-Kommission behält den Corona-Wiederaufbaufonds (7,2 Milliarden Euro) wegen rechtsstaatlicher Bedenken genau im Auge. Kürzlich wurde auch der sogenannte Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eingesetzt, der es der Kommission ermöglicht, den Geldfluss bei Verdacht auf missbräuchliche Verwendung von EU-Geldern (z. B. Korruption) einzufrieren.
Für Ungarn ist dies ein doppeltes Problem: Das Land ist Nettoempfänger des Mehrjahreshaushalts innerhalb der EU und kämpft derzeit mit finanziellen Problemen, unter anderem wegen einer rücksichtslosen Fiskalpolitik, um den Wählern vor den Wahlen im April zu gefallen. „Die ungarische Regierung braucht wirklich Geld“, sagte die ehemalige Parlamentarierin Zsuzsanna Szelényi. Heute ist sie dem Democracy Institute in Budapest angegliedert und forscht zur ungarischen Politik.
Themen wie der Corona-Wiederaufbaufonds bleiben nach Angaben der Beteiligten getrennt von der Ölthematik im Verhandlungsraum. „Das bezweifle ich“, sagt Szelényi. „Außerdem ist alles Geld, das sie bekommen können, willkommen.“ Aufgrund der Intransparenz der Rechnungslegung der ungarischen Regierung lande sie in einem großen Topf, sagt Szelényi. Orbán weiß, dass die EU im Konsens arbeitet und wird das Spiel weiter hart spielen. „Dies ist eine schwierige Lage für die Kommission. Denn wenn Sie Ungarn zusätzliches Geld geben, wie erklären Sie das anderen Ländern?‘