Putin hat die Auflösung der Sowjetunion einmal als „die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Er tut daher alles, um diese „Katastrophe“ rückgängig zu machen, die von einem ganzen Trio blutrünstiger nationalistischer Ideologen wie Aleksandr Dugin gefördert wird, der von unserem eigenen Baudet als verwandtes Genie geschätzt wird und dessen ebenso blutrünstige Tochter kürzlich bei einem Bombenangriff getötet wurde. der weg ist frei. Wer mit dem Schwert regiert, wird mit dem Schwert umkommen – als gläubiger Christ kennt Dugin diesen Satz aus dem Matthäus-Evangelium sicher.
Der Kreml strebt offen nicht nur die Wiederherstellung der Sowjetunion, sondern auch die der alten russischen Machtposition von vor 1989 an, was bedeutet, dass die Interessen aller westlichen Nachbarn – von Finnland bis Rumänien – denen Moskaus untergeordnet werden müssen wieder zu machen.
Putin sieht den in der vergangenen Woche verstorbenen Michail Gorbatschow als Hauptverantwortlichen für die fragliche Katastrophe an: Er hätte alles, was Stalin – inzwischen als großer Patriot wiederhergestellt – aus sentimentaler Schwäche herausgegeben. Diese Ansicht ist nicht ohne Grund weit verbreitet und zugleich nicht richtig.
Jelzin
Gorbatschow hatte bei seinem Amtsantritt und auch danach (de facto nicht seine Schuld, sondern dank Jelzin) nicht die Absicht, die osteuropäischen Satelliten an den Westen zu „übergeben“ oder die Sowjetunion aufzulösen. Er wollte die Sowjetunion retten, indem er sie reformierte. Dass das unmöglich war, und dass sein Reformversuch im Ruin enden – vielleicht: scheitern musste – hatte er nicht vorhergesehen. Übrigens auch nicht die meisten westlichen Kremlologen, die vom Zusammenbruch des Sowjetimperiums gleichermaßen überrascht waren.
Hätte Gorbatschow diesen Ausgang vorausgesehen oder zumindest einkalkuliert, wäre fraglich, ob er seine Reformen begonnen und auch in den entscheidenden Anfangsjahren hätte durchhalten können. Sein historisches Verdienst liegt nicht darin, dass er selbst das Sowjetimperium zerschlagen hat, sondern dass er, nachdem der Stein in Bewegung gesetzt war, nicht versucht hat, ihn mit Gewalt zu verhindern: Die Osteuropäer konnten nun frei über ihre Zukunft entscheiden. zu entscheiden.
Dass er diese Reformen so stark prägen und gleichzeitig ihre unerwünschten Folgen nicht verhindern konnte, lag daran, dass seine Position als Parteivorsitzender für die erste noch stark genug war, für die zweite nicht mehr. Mit seinen eigenen Reformen hatte er unbeabsichtigt nicht nur Russlands internationale Position geschwächt, sondern durch den Widerstand, den es im Inneren hervorrief, auch seine eigene. Und gleichzeitig war diese Opposition nur stark genug, um ihn mit diesem halbherzigen Putschversuch beiseite zu schieben, als es bereits zu spät war.
Paradox
Das ist das Paradoxon von Gorbatschows historischer Bedeutung: immer noch mächtig genug, um enorme Veränderungen herbeizuführen, nicht mehr mächtig genug, um die unbeabsichtigt folgenden viel größeren Veränderungen zu verhindern. Nämlich, dass mit der kommunistischen Diktatur die internationale Konstellation mit Vasallenregimen in Osteuropa automatisch verschwinden würde.
Rückblickend stellt sich die interessante Frage, warum Gorbatschow diesen Ausgang nicht vorhersehen konnte oder nicht vorhersehen konnte. Ein wichtiger Faktor ist zweifellos, dass er zuvor trotz aller eigenen Kritik an dessen Funktionieren gleichzeitig zu einem großen Teil das Produkt des sowjetischen Systems und der damit einhergehenden sowjetischen Weltanschauung und damit der sowjetischen Erziehung war. Ein wichtiges Element davon, jetzt von Putin mit der neuen Stalin-Verehrung wiederbelebt, war der Große Vaterländische Krieg gegen das faschistische Deutschland 1941-1945 und die damit verbundene Befreiung der osteuropäischen Länder aus den Fängen des Dritten Reiches.
In der Folge glaubte Gorbatschow ebenso wie seine Gegner an den sowjetischen Mythos der Völkerverbrüderung unter russischer Führung, wie er jedem sowjetischen Untertan durch die allgegenwärtige Staatspropaganda jahrzehntelang eingeprägt worden war. Niemand, auch der kritischste Geist, kann sich den Klischeebildern ganz entziehen, die als permanentes mentales Hintergrundrauschen vorhanden sind, das jede Nation von sich und ihrer eigenen Geschichte hegt und die die politische Kultur eines Landes permanent sichtbar und unsichtbar durchdringt.
VOC-Mentalität
So wie zum Beispiel fast ganz Den Haag 1945 an einem romantischen Selbstverständnis seiner kolonialen „Berufung“ in Indien festhielt (Balkenendes berühmte „VOC-Mentalität“ war ein spätes Wiederkäuen davon) und Churchill immer eine geblieben ist In viktorianischer Zeit aufgewachsener britischer Imperialist, für den die Interessen des Imperiums Vorrang vor demokratischer Selbstbestimmung hatten.
Und so wie Roosevelt – keineswegs der Dümmste – tatsächlich automatisch davon ausging, dass Amerika angesichts der hochtrabenden Ideale seiner Gründerväter objektiv die Interessen der gesamten Menschheit vertrete, so kam er in Jalta ernsthaft mit einem Generalvorschlag Abrüstung. Mit Ausnahme eines Landes natürlich, der Vereinigten Staaten, die als neutraler, selbstloser Wächter der neuen UN-verkörperten Weltordnung fungieren würden. Die Gesichtsausdrücke von Churchill und Stalin danach sind leider nicht erhalten.
In ähnlicher Weise glaubte Gorbatschow wahrscheinlich, dass Polen und Tschechen auch nach dem Ende des russischen Zwangs aus Dankbarkeit für ihre Befreiung im Jahr 1945 freiwillig Verbündete bleiben würden. Vermutlich erkannte er zu spät, dass ihre Interpretation von Stalins internationaler Rolle in jenen Jahren anders war als die, die der Kreml jahrzehntelang proklamierte.
Thomas von der Dunk ist Kulturhistoriker.