Merkel in seltenem Interview: „Ich bin außenpolitisch keinen Zentimeter weitergekommen“

Merkel in seltenem Interview „Ich bin aussenpolitisch keinen Zentimeter weitergekommen


Angela Merkel und Wladimir Putin 2019 in Berlin.Bild AFP

Fühlt sie sich schuldig? Der SpiegelDer Journalist und Merkel-Biograf Alexander Solvang wirft die Frage im umfassendsten Interview mit der Altkanzlerin seit ihrem Rücktritt im vergangenen Jahr auf, eine Reflexion über ihre 16 Jahre an der Macht. Eine Frage, die seither viele in Deutschland beschäftigt, so beliebt Angela Merkel über die Jahre auch gewesen sein mag. Denn ein Jahr nach Merkels Rücktritt, schreibt Solvang, „brennt die Welt, Russland ist in die Ukraine einmarschiert, Benzin und Diesel sind teuer, und Deutschland fürchtet den Winter“.

Im vergangenen Jahr wurde Merkel kaum gehört. In einem früheren Gespräch mit Solvang im Juni verteidigte sie recht fröhlich ihre seit Jahren verfolgte Politik mit felsenfester Überzeugung, die auch auf andere europäische Länder übergriff. Sie erntet viel Kritik. Denn das vergangene Jahr hat gezeigt, dass enge Beziehungen zu Russland keinen Frieden garantieren. Die Gaspipelines Nord Stream haben den Kontinent in der Tat angreifbar gemacht. Kaum war Merkel gegangen, unternahm die neue Bundesregierung rigorose Schritte, um das Land endgültig in eine vollständig grüne Wirtschaft umzuwandeln.

Jetzt, wo das „Hamsterrad“ langsam zum Stillstand komme, habe Merkel mehr Zeit zum Nachdenken. Der Artikel von mehr als zehntausend Wörtern schlängelt sich über viele Absätze durch Merkels Beziehung zur verstorbenen britischen Königin Elizabeth – auch ein bisschen cool, sarkastisch und mit einem eigensinnigen Ehemann –, bevor es über Churchill zu dem Thema führt, von dem alle hören wollen: Krieg.

Nato-Mitgliedschaft Ukraine

Merkel verteidigte 2008 erneut den berüchtigten Nato-Gipfel in Bukarest, wo sie und der damalige Außenminister – heute Bundespräsident – ​​Frank-Walter Steinmeier Nato-Beitrittskandidaten der Ukraine blockierten. Am Tag nach dem russischen Einmarsch in dieses Land lud Präsident Wolodymyr Selenskyj die beiden deutschen Politiker ein, „zu sehen, was ihre Politik der Zugeständnisse an Russland in vierzehn Jahren bewirkt hat, um die gefolterten ukrainischen Männer und Frauen mit eigenen Augen zu sehen“.

Aber, sagt Merkel: Die Nato-Mitgliedschaft hätte einen Krieg mit Russland viel näher bringen können. Damit klinge Bukarest 2008 wie München 1938, schreibt Solvang und verweist auf den Vertrag, der die Annexion eines Teils der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland legitimierte. Aber Merkel sieht das anders. Ihre Position im Jahr 2008 und ihr Vorstoß mit Frankreich im Jahr 2014, einen Waffenstillstand in der Ostukraine zu erreichen, haben der Ukraine Zeit gegeben, sich auf die Invasion vorzubereiten, die schließlich 2022 stattfand. Die Ukraine ist jetzt ein stärkeres Land. „Damals, da ist sie sich sicher, wären Putins Soldaten einfach übers Land gerollt.“

Vergangenes Jahr

Im Sommer 2021 versuchte Merkel, einen unabhängigen Dialog zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem Europäischen Rat zu etablieren. Aber einige andere europäische Länder wollten davon nichts wissen, sagt Merkel. „Einer sagte: Das ist mir zu groß. Der andere zuckte mit den Schultern: Das sollten die großen Länder machen. Ich hatte keine Macht mehr, mich durchzusetzen, weil alle wussten: Im Herbst wird sie weg sein.‘

Ein Dialog kam nie zustande, und als Merkel Putin im August desselben Jahres einen Abschiedsbesuch abstattete, empfing er sie zusammen mit Lawrow. Früher sprachen sie immer unter vier Augen. „Aber Putin wusste: Machtpolitisch ist Schluss. Und für Putin zählt nur Macht.“

Ihr Vermächtnis

Sie schlafe gut, sagt Merkel. Sie liest Shakespeare und Schiller, um zu verstehen, was gerade passiert. Auch bei ihr. Ihre Rolle in den großen Ereignissen unserer Zeit und ihr Vermächtnis. Manchmal wacht sie nachts auf und „denkt“. Merkel: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber Muster wiederholen sich. Schrecken verschwinden mit den lebenden Zeugen. Aber auch der Geist der Versöhnung verschwindet.“ Sie verweist auf ihre enge Mitarbeiterin Beate Baumann, die ebenfalls beim Interview anwesend war: „Sie sagt, dass ich seit Ende meiner Amtszeit pessimistischer geworden bin.“ Baumann ergänzt: ‚Grimmiger.‘

Die Schuldfrage hängt in der Luft, außer vielleicht für den guten Zuhörer. Alle wollen eine Entschuldigung, vor allem für den Russlandkrieg, schreibt Solvang. Vom CDU-Prominenz Wolfgang Schäuble bis zu 86 Prozent der Wochenzeitungsleser Diese Zeit in einer aktuellen Umfrage.

Merkel hält es für verfrüht, sich für ihre Russlandpolitik zu entschuldigen. Sie hofft, dass ihre Politik längerfristig rehabilitiert wird. Aber sie entschied sich, nicht zur Wiederwahl zu kandidieren, weil sie dachte, es sei Zeit für eine Neuwahl. Immerhin sagt sie im Interview: „Letztendlich bin ich in der Außenpolitik keinen Zentimeter weitergekommen. Nicht nur über die Ukraine. Auch in Bezug auf Transnistrien und Moldawien, Georgien und Abchasien, Syrien und Libyen. Es war Zeit für einen neuen Ansatz.“



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