Marokkaner jubeln über so viel mehr als Fußballerfolge, schreibt Abdelkader Benali

Marokkaner jubeln ueber so viel mehr als Fussballerfolge schreibt Abdelkader


Marokko steht erstmals im Viertelfinale einer WM. Warum sorgt das bei Fans auf der ganzen Welt für so viel Aufsehen? Es ist eine Feier der bikulturellen Identität, schreibt der Autor Abdelkader Benali. Gegen alle Vorurteile.

Abdelkader Benali

Wenige Minuten nach dem Sieg Marokkos über Spanien ging ich durch das regennasse Amsterdam zum Mercatorplein, wo sich Hunderte von begeisterten Anhängern versammelt hatten. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, die tanzten, moderierten, hupten, Fahnen schwenkten und laut sangen. Marokko zum ersten Mal in der Geschichte ins Viertelfinale. Auf diesem Platz, auf dem ihre Fußballhelden Hakim Ziyech und Noussair Mazraoui keine Fremden waren, zündeten junge Leute unter den wachsamen Augen nervöser Vollstrecker Feuerwerke und sprinteten auf ihren Rollern.

Warum drehten diese jungen Leute trotz des schlechten Wetters durch, als wäre Marokko Weltmeister geworden? Mit einem Kloß im Hals betrachtete ich die Fröhlichkeit. Ich sah auch Ausdrücke von Triumphalismus; der Sieg war viel mehr als ein sportlicher Erfolg. Gefeiert wurde auch die bikulturelle Identität, die viele Welten in sich trägt. Hier holte man sich seinen gesellschaftlichen Zorn aus der jahrelangen Herabwürdigung: die Diskriminierung, die nicht vergebenen Praktika, die unaufhörlichen Vorurteile.

Heute Abend fiel der Sieg der Gruppe mit dem stillen Schmerz des Einzelnen zusammen. „Damit hast du nicht gerechnet, oder?“, sagte Hakim Ziyech nach dem Spiel zu Joep Schreuder von der NOS. Eine doppelte Anklageerwiderung. Hat man nicht mit einem marokkanischen Niederländer der dritten Generation gerechnet, der es trotz aller Ablehnung und Ausgrenzung vorerst bis ins Viertelfinale geschafft hat. So rief die feiernde Gruppe auf dem Mercatorplein: „Das hast du nicht erwartet, oder?“

Weine mir die Augen aus

Das letzte Mal, dass Marokko in einem Achtelfinale stand, war 1986. Daran kann ich mich gut erinnern. Unsere Familie war mitten in der Nacht aufgestanden, um sich das Spiel der Atlas Lions gegen Westdeutschland anzusehen. Lothar Matthäus zerstörte mit einem Freistoß den marokkanischen Traum. Ich habe sehr geweint, mein Vater hat nie wieder ein Fußballspiel gesehen.

Die Löwen des Atlas klopften dann vergeblich an die magische Tür zum Achtelfinale. Es wurde erwartet, aber nicht erreicht. Die Teams von 1994, 1998 und 2018 scheiterten. In Katar hat es funktioniert. Eine beispiellose Leistung eines Teams, dessen Mitglieder von überall und nirgendwo herkommen – ein Spiegelbild der rohen, schwindelerregenden marokkanischen Realität. Trainer Walid Regragui, der selbst in Frankreich aufgewachsen ist und sich nach einer langen Spielerkarriere als Trainer in Marokko niedergelassen hat, sprach von einem afrikanischen Sieg. „Wir spielen hier für den Kontinent.“

Fans jubeln in Osdorp. Benali: ‚Heute Abend fiel der Sieg der Gruppe mit dem stillen Schmerz des Einzelnen zusammen.‘Skulptur Joris van Gennip

Sein Ton ist zuversichtlich, hier spricht ein Mann mit einer Mission. Und er plädiert dafür, laut von der WM zu träumen. Warum sollte ein afrikanisches Team davon nicht träumen? Warum sich mit einer Teilnahme oder gar einem Viertelfinale begnügen, wie es Kamerun, Senegal und Ghana in den letzten Jahrzehnten geschafft haben? Gold kann nur erreicht werden, wenn die Erwartungen geweckt werden. Seine Worte berühren Millionen afrikanischer Herzen. Marokkanische Bestrebungen treffen auf afrikanische Träume.

Marokko will nachdrücklich ein Leitland für den Kontinent sein, muss dann aber seine andere Rolle anpassen. Sie ist seit vielen Jahren ein Torwächter für Europa und hält mit Gummigeschossen die Grenzen für Subsahara-Afrikaner geschlossen, die über die Zäune der spanischen Kronkolonien Melilla und Ceuta klettern wollen. Die Frage ist, wie lange das dauern wird, nachdem sich Marokko zunehmend auf die afrikanische Welt konzentriert. Da liegen die Chancen, da liegt das Wirtschaftswachstum, da wird noch laut geträumt.

Gutverdiener und Pioniere

Genau wie in Marokko sind die wirtschaftlichen Unterschiede im Team enorm. Bestbezahlter Spieler wird Achraf Hakimi mit einem Jahresgehalt von 12 Millionen Euro pro Jahr, was ein Vielfaches dessen ist, was ein marokkanischer Spieler wie Yahya Jabrane in der heimischen Liga verdient. Walid Regragui hat die Gutverdiener und die Pioniere in einem gemeinsamen Ziel vereint. Was das Team zusammenhält, ist, dass sie trotz aller Unterschiede eine gemeinsame, rohe Realität teilen. Sie alle stammen aus armen Familien, die mit enormen Entbehrungen zu kämpfen hatten. Alle Fußballspieler haben Armut erlebt und bezeugen es. Fußball wurde zum einzigen Ausweg aus der Misere. Und das weiß der marokkanische Zuschauer. Keine privilegierten Bürgerkinder hier, keine ausgestopften Hähne, sondern Straßenkämpfer, allesamt, die vom Fußballparadies träumen.

Europäische Marokkaner tragen eine doppelte Last. Schon früh mussten sie sich mit Rassismus, Diskriminierung und Islamophobie auseinandersetzen. Ihr Europa ist das Europa der Segregation, der Gastarbeiter, der sozialen Misere. Nicht umsonst wurde das Spiel gegen Belgien als Spiel zwischen Reichen und Reichen gerahmt. Nicht umsonst wurde das Spiel gegen Spanien, den alten Kolonialherrn, als historische Gerechtigkeit gerahmt. Dem Trainer dürfte es nicht schwergefallen sein, damit das Feuer zu schüren.

Spannung während des Spiels gegen Spanien, das Marokko gewann.  Benali: „Unabhängig vom Ergebnis gegen Portugal hat die marokkanische Mannschaft bewiesen, dass sie trotz aller Unterschiede über sich hinauswachsen kann.“  Skulptur Joris van Gennip

Spannung während des Spiels gegen Spanien, das Marokko gewann. Benali: „Unabhängig vom Ergebnis gegen Portugal hat die marokkanische Mannschaft bewiesen, dass sie trotz aller Unterschiede über sich hinauswachsen kann.“Skulptur Joris van Gennip

Torwart Yassine Bounou wurde in Montreal geboren, der bereits erwähnte Hakimi wurde in Madrid geboren, Geschmacksmacher Ziyech kommt aus Dronten, Sofyan Amrabat aus Huizen. Kinder von Wanderarbeitern, die im eigenen Land übersehen wurden. Zu schwierig, zu skurril, zu viel. Jahrelang wurde argumentiert, dass marokkanische Fußballer an guten Tagen gegen die Stars des Himmels spielen, aber mit einem Spritzer Regen keine Delle in eine Buttertüte schlagen. Ihr Mangel an Belastbarkeit wurde immer beschuldigt, grinta. Dabei spielten alle bekannten Vorurteile gegenüber jungen Marokkanern eine Rolle: schwer kontrollierbar, anfällig für Ausschweifungen und verletzlich aufgrund fehlender guter Heimatbasis.

Gemeinsam schließen

Dieses Team bricht mit diesem Vorurteil. Der Einzelne ist dem Team untergeordnet. Die ausgearbeiteten Taktiken werden bis ins kleinste Detail von einem engmaschigen Kollektiv ausgeführt. Wenn möglich, wird kein Schritt zu viel gemacht. Sogar Ziyech schaltet sich in die Abwehr ein, kämpft gegen den Rotz vor seinen Augen.

Marokkaner fordern Facebook auf, versagende und korrupte Minister durch das Führungsteam des Teams zu ersetzen. Die mit doppelten Identitäten überladenen Spieler werden für ihren grenzenlosen Tatendrang gelobt; In einem Land, in dem mehr als 50 Prozent der Bevölkerung unter 18 Jahre alt sind, sind sie ein leuchtendes Beispiel. Aber es kommt hinzu, dass diese Spieler im marokkanischen System nie zu den Perlen hätten heranwachsen können, die sie heute sind – es fehlt an individueller Freiheit, dem Raum und dem Netzwerk, um Talenten den Raum zu geben, den sie brauchen. Marokko hat Millionen in einen Sportkomplex investiert, der einheimischen Marokkanern und den sogenannten Marokkanern in der Diaspora die besten Voraussetzungen bieten soll, um in den Spitzensport einzusteigen. Das zahlt sich jetzt aus. Aber wird es möglich sein, mit lokalen Talenten an die Spitze zu gelangen, unterstützt durch die beeindruckende Infrastruktur?

Unabhängig vom Ergebnis gegen Portugal (Viertelfinale ist Samstagnachmittag um 16 Uhr) hat die marokkanische Mannschaft bewiesen, dass sie trotz aller Differenzen über sich hinauswachsen kann. Walid Regraguis Auftrag, es zu wagen, laut zu träumen, hat den Mercatorplein erreicht. Das Schwenken der marokkanischen Flagge war ein Ausdruck dieses Traums. Der Traum, dass in einem multikulturellen Europa bikulturelle Identität keine Last, sondern eine Bereicherung ist. „Das hast du nicht erwartet, oder?“



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