Lesen ist so geworden, als würde man sich die Zähne mit Zahnseide reinigen: Man kann immer darüber scherzen, dass man es tut

Lesen ist so geworden als wuerde man sich die Zaehne
Sylvia Whiteman

Die Medien füttern uns ständig mit bedrohlichen Geschichten über die Gefahren des „Nichtlesens“. Sie erinnern mich mit ihren Drohungen und Bitten immer an eine Fernsehsendung aus den 1990er Jahren mit einem äußerst merkwürdigen Titel, der mir immer im Gedächtnis geblieben ist: Kunst… weil man es muss!

Die Fahne deckte sicherlich die Last ab. Nach dem damaligen Mediengesetz mussten 25 Prozent der Sendungen etwas mit Kunst zu tun haben. Die Idee bestand darin, Kunst für Menschen zugänglicher zu machen, die keine „Gelegenheit“ hatten, ein Museum, Theater oder Konzerthaus zu besuchen.

Das Knifflige war und ist, dass die meisten Menschen schon so viel tun müssen. In ihrer Freizeit schauen sie sich lieber keine verstaubten Dokumentarfilme über mystische jemenitische Volkskunst oder für das Laienohr eher bissig klingende chinesische Opern an. Wurde glücklich Kunst… weil man es muss! Die Sendung wurde nur zu ungünstigen Zeiten (nach Mitternacht) ausgestrahlt, sodass sich niemand schuldig fühlen musste, wenn er nicht zusah.

Vor nicht allzu langer Zeit war Lesen etwas, das Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zum Spaß taten. Sie wurden durch andere Freuden ersetzt, die ich wahrscheinlich nicht aufzuzählen brauche. Lesen ist daher so etwas wie das Essen von 3 Unzen Gemüse am Tag, das Trennen Ihres Mülls und die Verwendung von Zahnseide: Sie können immer joggen, dass Sie es tun. (Oder lassen Sie es auf ein T-Shirt drucken. Ich sehe viele junge Leute mit Texten wie „Halt die Klappe, ich lese“ oder „Book Nerd“ auf ihren trainierten Oberkörpern, die durch die Stadt hüpfen, wahrscheinlich alle auf dem Weg dorthin der Bibliothek.)

Bezüglich der Bibliothek: Die Grundmitgliedschaft der Amsterdam Public Library kostet 39,50 Euro pro Jahr. Wissen Sie, wie viele Bücher Sie dafür ausleihen können? Zwanzig Stück. Zwanzig alberne Bücher pro Jahr! Bettelt man nicht so um ein Volk, das Analphabeten ist?

Glücklicherweise gibt es immer noch DBNL.org, die digitale Bibliothek für niederländische Literatur. Es gibt einen glitzernden Schatz an alten niederländischen Büchern, die alle völlig kostenlos gelesen werden können. Ein Land voller Vergnügen, in dem ich fast jeden Tag sabbernd umherwandere und eifrig in alles hineinbeiße, worauf ich Lust habe.

Herman Heijermans zum Beispiel. Er ist seit fast hundert Jahren tot und bei meiner Geburt fast vergessen. Doch wer seine „Skizzen“ liest, bekommt ein gestochen scharfes Bild vom „einfachen“ Volk um 1900, dem elenden, tristen Leben des nachlässigen Proletariats in stickigen Hinterzimmern, mit seinen Krankheiten, Nöten und der Fülle kränklicher Kinder.

Heijermans, selbst Jude, beschrieb mit filmischer Präzision die Lage im Amsterdamer Judenviertel. Wie ein heißer Sommertag auf dem Markt in der Jodenbreestraat: „In der schwülen Atmosphäre dieses Augustnachmittags wirkten die Gesichter älterer, schmutzigerer Knochen, eher willensschwacher Weichheit.“ Graue Koteletten rollten sich zu einem dünnen Kinn zusammen oder die Haut war mit roten Stoppeln verschmutzt. Die Säure in den Töpfen, die gekochte Leber, der klebrige Haufen hellbrauner Datteln auf Zeitungspapier, die Birnen mit schwärzlichen Steinpunkten, der grau-schleimige Meerrettich, der von den heißen, staubigen Dämpfen schmutzig ist …“

„Über den heiseren, tiefen Schreien der Juden ertönte der scharfe Klang der Straßenbahnglocke hellgelb.“ Der Kutscher klirrte wütend, lila unter der Uniformmütze. Pflaumensaft spritzte aus seinem Mund, strich über das Gesäß des Pferdes und klebte in schwarzen, nassen Kringeln auf dem staubigen Boden. Seine pure Verachtung für das laute, schlanke, eckige jüdische Volk spritzte dort hinein.‘

Du riechst diese faulen Birnen, diesen Staub, diesen Kautabak, dieses Pferd, du hörst den Marktlärm, du spürst die Hitze und du schmeckst diese klebrigen Datteln. 125 Jahre später. Man schaudert, wenn man an die schrecklichen Folgen dieser damals ganz gewöhnlichen „Verachtung für das laute, dürre, kantige jüdische Volk“ denkt, die Heijermans noch nicht bewusst war.
Kunst… weil man es muss!



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