Kus-rel entlarvt die Dichotomie in Spanien: Sowohl Machismo als auch Feminismus sind lebendig und gesund

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Luis Rubiales küsst Jennifer Hermoso während der Medaillenzeremonie.Bild Noemi Llamas / Getty

Zwei Drittel nach Beginn des WM-Finales gegen England atmet Jenni Hermoso tief durch die Nase. Aus elf Metern kann die ewige Torschützin der spanischen Nationalmannschaft den 1:0-Vorsprung ihrer Mannschaft verdoppeln. Ihr begabtes linkes Bein, mit dem sie so viele szenische Aktionen vollbracht hat, fehlt selten.

Aber jetzt ist es soweit.

Kurz darauf siegt Spanien immer noch, zur Erleichterung von Hermoso. Sie kann sich in die Warteschlange einreihen, um Glückwünsche von Luis Rubiales, dem Präsidenten des spanischen Fußballverbandes, entgegenzunehmen. Ein euphorischer Rubiales sagt ihr, sie solle den verschossenen Elfmeter vergessen, nimmt ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und küsst sie voll auf den Mund.

Der Kuss ist der Beginn einer hitzigen Diskussion, die die soziale Spaltung in Spanien deutlich macht.

Über den Autor
Fleur Damen ist Reporterin von de Volkskrant.

Es ist vorbei

„Ich war damit beschäftigt, Stücke zu bearbeiten, als ich die Bilder vorbeikommen sah“, sagt Nadia Tronchoni, Chefredakteurin für Sport der progressiven Tageszeitung El País, am Telefon aus Madrid. „Sie haben mich enorm berührt.“

Tronchoni ist einer der ersten ein Stück über den Kuss veröffentlichen. „Was für eine Schande, dass ein so schöner Tag durch so zwielichtigen, ungeschminkten Machismo ruiniert wird“, schreibt sie in einem hitzigen Meinungsartikel, der schnell viral geht.

Bilder aus der Umkleidekabine nach der Zeremonie machen deutlich, dass Hermoso mit dem Kuss nicht gedient war. Sie ruft den Mitspielern zu: „Hey, es hat mir nicht gefallen!“ Aber was kann ich tun?‘. Dennoch gab der Fußballverband einen Tag später in seinem Namen eine Stellungnahme ab: Der Kuss sei eine „natürliche Geste“ im Rahmen der Feierlichkeiten gewesen, die nicht so sehr wertgeschätzt werden dürfe.

Am Freitag, fünf Tage nach der Preisverleihung, ist der Ton völlig anders. Se acabo, Es ist vorbei, twittert Alexia Putellas, zweimal zur besten Spielerin der Welt gekürt. Rubiales muss gehen, denkt Putellas und das ganze Team stimmt zu.

Auch Hermoso macht klar: Der Kuss war tatsächlich unerwünscht, sie fühlte sich verletzlich und die Worte in der Aussage stammten nicht von ihr. Sie fordert weitreichende Maßnahmen. Sie sagt auch: se acabo.

Der Satz entwickelt sich schnell zu einem Slogan in den sozialen Medien, und die Herrenmannschaft von Sevilla betrat am vergangenen Wochenende das Spielfeld in T-Shirts mit dem Text. Es geht um mehr als nur Rubiales. Denn nach Ansicht der Frauenprofis symbolisiert der Kuss des Vorsitzenden alles, was in der Spitze des internationalen Frauenfußballs falsch läuft: struktureller Machismo und mangelnder Respekt gegenüber den Profis.

Für fortschrittliche Spanier geht es bei dem Kuss sogar um mehr als Fußball: Er steht exemplarisch für eine hoffnungslos veraltete Gesellschaft, in der Männer tun und lassen können, was sie wollen.

Zwangsaktivist

Erstens: Was stimmt nicht mit dem Frauenfußball? Im September letzten Jahres brach ein langjähriger Konflikt zwischen den spanischen Fußballspielern und dem Verband aus. Fünfzehn Nationalspieler wollen nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen, solange Nationaltrainer Jorge Vilda am Ruder ist. Den Spielern zufolge kontrolliert der Bundestrainer zu sehr: Seit Jahren müssen Spieler nachts die Türen ihrer Hotelzimmer öffnen, um nachzusehen. Zudem seien die Trainingsmethoden und -einrichtungen inklusive der medizinischen Versorgung nicht auf dem neuesten Stand, um Fußball auf höchstem Niveau zu spielen, sagen die Profis.

Die von Rubiales geführte Gewerkschaft zuckt mit den Schultern über die Kritik. Ob man für die Nationalmannschaft spielt oder nicht, lautet die Reaktion. Die Spieler werden nicht erneut aufgerufen, es sei denn, sie nehmen ihre Worte zurück. Bei Bedarf werde Spanien bei der WM mit Spielern aus den Jugendmannschaften antreten, erklärt der Verband.

Der Konflikt passt in ein Muster: Wenn man als Frau Fußball auf höchstem Niveau spielt und angemessene Einrichtungen erwartet, kommt man kaum daran vorbei, Aktivistin zu sein. Auch Profifußballer in anderen Ländern riskieren ihre internationale Karriere, um Veränderungen zu erzwingen.

Luis Rubiales feiert mit Jennifer Hermoso und anderen spanischen Spielern den Gewinn des Weltmeistertitels.  Bild RFEF/REUTERS

Luis Rubiales feiert mit Jennifer Hermoso und anderen spanischen Spielern den Gewinn des Weltmeistertitels.Bild RFEF/REUTERS

Im Jahr 2016 reichten Spieler der US-Nationalmannschaft eine Klage gegen die Gewerkschaft ein, um gleiches Entgelt durchzusetzen. Ein Jahr später weigerte sich die Norwegerin Ada Hegerberg als erste Fußballstarin, für ihre Nationalmannschaft zu spielen, solange der Mannschaft nicht die gleichen Ressourcen zur Verfügung standen wie den Männern. Ähnliche Diskussionen fanden im Vorfeld dieser Weltmeisterschaft in den Auswahlen Frankreichs und Kanadas statt.

Nirgendwo war der Unmut in diesem Jahr so ​​groß wie in der spanischen Nationalmannschaft. Die Entschlossenheit unter den fünfzehn Dissidenten ist daher groß. Lediglich drei Spieler kommen auf ihre Kritik zurück und werden in den Kader für diese WM aufgenommen.

Niemand hatte damit gerechnet, dass die geschwächte Mannschaft weit kommen würde, geschweige denn mit auffälligem Kombinationsfußball Meister werden würde. Doch schon am Tag des gewonnenen Finales gerät dieser sportliche Kraftakt in den Hintergrund. Wegen diesem Kuss.

Linksprogressiv versus Konservativ

In den Augen von Rubiales sei der Sieg des spanischen Frauenfußballs vor allem sein Sieg gewesen, sagt Sportjournalist Tronchoni. „Der Kuss zeigt, dass Rubiales sich wie ein Champion fühlte, weil er den Showdown mit den kritischen Spielern und denen, die sie unterstützten, gewonnen hatte.“

Der Kuss macht auch für die breite Öffentlichkeit sichtbar, was die Spieler schon seit Längerem sagen: Der Verband respektiert sie nicht. „Die Zeit hat uns Recht gegeben“, antwortete Lola Gallardo, eine der kritischen Spielerinnen, die die Spiele der spanischen Mannschaft von zu Hause aus verfolgte, in einem Interview mit El País. „Wir mussten diese Grenze erreichen, bevor uns die Leute glauben. Das ist es, was mich am meisten ärgert.‘

Der Weltfußballverband Fifa hat gegen Rubiales eine dreimonatige Sperre verhängt und die spanische Staatsanwaltschaft hat am Montag beschlossen, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Doch nicht jeder in Spanien findet Rubiales‘ Verhalten problematisch, allen voran Rubiales selbst. Am Freitag entschuldigte er sich in einer Rede beim Fußballverband – allerdings noch nicht. „Es war spontan, gegenseitig, euphorisch und einvernehmlich“, sagte er in der Rede.

Laut Rubiales sei eine „Hexenjagd“ durch „falschen Feminismus“ und die Medien gegen ihn entfesselt worden, mit dem Ziel eines „sozialen Mordes“ an ihm und Nationaltrainerin Vilda. Seine Worte können mit lautem Applaus aus der Halle voller Fußballbosse rechnen.

Diese Unterstützung sei nicht verwunderlich, sagt Sportjournalist Tronchoni, denn die Regionalverbände seien auf Rubiales angewiesen. „Wenn man ein schlechtes Verhältnis zum nationalen Präsidenten hat, bekommt man weniger Geld.“

Darüber hinaus, sagt Tronchoni, teilen die Fußballgrößen die Ansichten mit Rubiales. „In seiner Rede sagte Rubiales: Wir sehen das Problem hier innerhalb der Gewerkschaft nicht. Denn in ihrer Welt – die fast ausschließlich aus nicht allzu jungen Männern besteht – ist das immer noch möglich.“

Dichotomie in der Gesellschaft

Das Übergangskabinett der sozialdemokratischen PSOE und der linksextremen, populistischen Unidas Podemos stehen auf der Seite der Fußballspieler. Sollte die Rubiales-Gewerkschaft nicht entlassen werden, werde das Kabinett dies tun, drohte Kultur- und Sportminister Miquel Iceta (PSOE).

Am anderen Ende des Spektrums stehen die Reaktionen konservativer Politiker wie Isabel Ayuso, der äußerst beliebten Regionalpräsidentin von Madrid. Ayuso schwieg tagelang, und als ihre Antwort am Sonntag kam, entschied sie sich für einen Angriff auf die Presse: „Wie interessant, dass die internationale Presse über das unangemessene Verhalten von Rubiales schreibt, aber niemand den Boykott des Radrennens durch den Katalanen verurteilt.“ Unabhängigkeitsbewegung. . „Wir leben in einer völligen Manipulation.“

Die hitzigen Reaktionen verdeutlichen die gesellschaftlichen Widersprüche in Spanien hinsichtlich der Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der faschistischen katholischen Diktatur von General Franco steht das Land an der Spitze der fortschrittlichen Gesetzgebung. Spanien liegt im internationalen Ranking der Akzeptanz und des rechtlichen Schutzes von LGBTI-Personen stets unter den Top Ten – nur einen Punkt hinter den Niederlanden – und ist seit diesem Jahr das erste europäische Land, das den Menstruationsurlaub gesetzlich verankert. Die feministische Bewegung ist stark und Themen wie Leihmutterschaft, Lohngefälle und Belästigung auf der Straße landen fast jede Woche auf der parlamentarischen Tagesordnung.

Luis Rubiales hat Athenea del Castillo Beivide auf seine Schulter genommen.  Bild AFP

Luis Rubiales hat Athenea del Castillo Beivide auf seine Schulter genommen.Bild AFP

Gleichzeitig ist nicht jeder in der Lage und willens, sich auf den raschen Wandel gesellschaftlicher Normen einzulassen. Eine große Gruppe meist älterer, religiöser und royalistischer Spanier ist nicht geneigt, ihre Ansichten zu ändern, und ist – genau wie Rubiales und die Gewerkschaft – der Meinung, dass das linke und feministische Spanien zu weit geht.

Die gesellschaftliche Debatte zu den Themen ist heftig, und das gilt auch für den Fall Rubiales. Rubiales‘ Mutter hat sich am Montag in einer Kirche im südspanischen Motril eingesperrt, um die angebliche Hexenjagd gegen ihren Sohn mit einem Hungerstreik zu stoppen.

Nummer 10

Eine echte Nummer 10, eine begnadete Dribblerin, zweibeinig, mit einem Schuss, der die Augen so manchen Fußballfans zum Leuchten bringt: Das ist Jenni Hermoso. Doch wer den Namen Hermoso hört, wird künftig vor allem an Rubiales denken.

„Weil sich ein Mann während einer Feier nicht benehmen darf, wird nicht über die Fußballspieler und ihre sportlichen Erfolge gesprochen“, schließt er El Pais-Journalist Tronchoni enttäuscht. Dennoch zieht Tronchoni eine positive Lehre aus dem Fall Rubiales. „Vor zehn Jahren hätte kein Hahn bei diesem Verhalten gekräht.“ Jetzt gibt es Konsequenzen, dank der Macht der Frauen und des Feminismus. Das ist auch ein Teil des Erfolgs dieser Mannschaft.“



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