Konservative Wähler in der deutschen Hauptstadt haben genug von der Unordnung in Berlin

Konservative Waehler in der deutschen Hauptstadt haben genug von der


Wahlplakate für SPD und CDU.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Das mache sie kein zweites Mal, sagt Carmen Blanke (58) in einem Einkaufszentrum im Berliner Arbeiterviertel Spandau. Sie hat einmal die SPD gewählt, bei den letzten Kommunalwahlen Ende 2021, doch von den linken Sozialdemokraten ist sie zutiefst enttäuscht. Sie wird also an diesem Sonntag erneut die CDU wählen. Vielleicht ziehen die Konservativen in der ungeordneten deutschen Hauptstadt endlich die Zügel etwas an. Struktur. Befehl. Solide Finanzen.

„Unser alter Bürgermeister hat mal Berlin erwähnt“Arm, sehr sexy“, sagt Blanke mit Blick auf die geflügelte Aussage des damaligen Oberbürgermeisters Klaus Wowereit aus dem Jahr 2003 das inoffizielle Motto der deutschen Hauptstadt wurde. „Nun, heutzutage heißt es eher ‚arm, arm und dreckig‘.

Berlins rauer, ungeschliffener Charakter übt eine starke Anziehungskraft auf Besucher aus – als eine Art kühleres Gegenstück zum grandiosen Paris. Aber auch viele Berliner haben genug von der Desorganisation in ihrer Hauptstadt. Eine Auswahl aus den Morgennachrichten am Donnerstag im Radio Berlin-Brandenburg: Tausend Lehrer zu wenig. Müllmänner im Streik. Flughafensanierung 800 Millionen Euro teurer als nötig. Berliner klagen über monatelange Wartezeiten bei der Gemeinde, Parkplatzmangel, Wohnungsnot und horrende Mieten. Oft werden Probleme, die die derzeitige Stadtverwaltung zu lösen versprochen hat, nur noch schlimmer.

Marathon

„Die Deutschen haben im Ausland den Ruf, gut organisiert zu sein“, scherzt Marcus Weber (58) in der Konditorei Fester in der Spandauer Altstadt. „Aber wenn ich mir unsere Hauptstadt ansehe, frage ich mich, woher dieser Ruf kommt.“

Marcus Weber (links) in der Konditorei Fester, mit Hedwig Kranz.  Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Marcus Weber (links) in der Konditorei Fester, mit Hedwig Kranz.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Ironischerweise sind diese Wahlen der ultimative Beweis für Berlins Desorganisation. Am 26. September 2021 hat ganz Deutschland für einen neuen Bundestag, das nationale Unterhaus, gestimmt. In Berlin wählten sie auch den Stadtrat. Und für die Vorstände der zwölf Bezirke, die über weitgehende Autonomie verfügen. Es gab einen Volksentscheid über die Enteignung einer Wohnungsbaugenossenschaft – typisch Berlin. Und auch der alljährliche Marathon fand an diesem Tag statt.

Ergebnis: Die halbe Stadt wurde abgeriegelt, Stimmzettel fehlten, lange Wartezeiten führten zu Wahlausfällen, Wahllokale zu früh oder zu spät geschlossen. Nach Beschwerden entschied das Bundesverfassungsgericht: Das muss noch einmal gemacht werden. Kosten: 39 Millionen Euro. Auch in Berlin werden die Bundestagswahlen teilweise wiederholt, aber das wird erst 2024 passieren und an der nationalen Regierungskoalition nichts ändern.

Wer wissen will, warum die konservative CDU in der linken deutschen Hauptstadt plötzlich auf dem Vormarsch ist, muss nicht lange nach der Antwort suchen: Unzufriedenheit.

Arbeiterstadt

In Spandau, ganz im Westen Berlins, gibt es an einem Donnerstagnachmittag kaum Erwachsene unter fünfzig. Wo man in zentralen Berliner Bezirken an jeder Straßenecke hinter einem Caffè Latte und einem MacBook sitzt, leben in Spandau Menschen, die tagsüber anderswo in Berlin damit beschäftigt sind, die Stadt am Laufen zu halten. Techniker, Gemeindeangestellte, Menschen, die nicht hinter einer Tastatur arbeiten können. Ein Thema, das hier in fast jedem Gespräch auftaucht: das Auto. Und als Symbol für die Distanz zwischen der jetzigen Verwaltung Berlins und den Werktätigen.

Ansehen die Karte der Stimmen nach Bezirken ab 2021, und sofort wird klar, wie es in Berlin läuft. Das Zentrum der Stadt – wohlhabend, hochgebildet, international – ist fast vollständig grün. Die umliegenden Bezirke, darunter auch Spandau, wählen schwarz (CDU) oder rot (SPD).

Großer gemeinsamer Feind hier: die Grünen. Nennen Sie ihren Namen im Karstadt-Kaufhaus, und die Leute stürzen sich mit stotterndem Ekel übereinander. Ganz Berlin funktioniert kaum, und was macht die Berliner Regierung mit der Grünen Verkehrsstadträtin Bettina Jarasch? Bau von Fahrradstraßen in der Innenstadt, Verteuerung des gebührenpflichtigen Parkens, Abbau von Parkplätzen. Den Arbeiter schikanieren. Und das alles unter dem wachsamen Auge von SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey. Zusammen mit den Grünen und einem kleinen Dritten, der Linken, bildet ihre Partei die aktuelle Regierung.

Die pensionierte Journalistin Barbara Lemke in einem Einkaufszentrum in Spandau.  Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Die pensionierte Journalistin Barbara Lemke in einem Einkaufszentrum in Spandau.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Für die CDU ist es ein lohnendes Thema; Wahlplakate in ganz Berlin schwören, dass unter der CDU niemand dein Auto nehmen wird. Andere Plakate plädieren für bezahlbaren Wohnraum oder versprechen ein „Ende des Chaos“. Es passt zu der breiteren Art und Weise, wie sich die CDU und der Vorsitzende der Metropole, Kai Wegner, als Hüter des fleißigen Deutschen aufstellen. Und überall heißt es: „Diesmal CDU“. Denn auch die Partei selbst weiß, dass sie im linken Berlin kein natürlicher Gewinner ist.

Aber im Moment liegen sie in den Umfragen ein paar Prozentpunkte vorne und riechen den Sieg. Ob die CDU tatsächlich das Ruder übernehmen wird, was bedeuten würde, dass das linke Berlin erstmals seit den 1990er Jahren wieder einen konservativen Regierungschef bekommen würde, ist höchst fraglich. Niemand will mit der CDU koalieren. Die jetzige Koalition kann wohl auch bei einem Sieg der CDU die Mehrheit halten.

Ost und West

Die Unordnung in der Berliner Verwaltung könne nicht allein der aktuellen Regierung angelastet werden, sagte am Donnerstagnachmittag sogar ein einzelner Beschwerdeführer in Spandau. Manche Probleme liegen tiefer. Ältere Politiker aus dem Osten und Westen der Stadt, sagt eine ältere Frau, trauen sich noch immer nicht. Jemand äußert den Verdacht, dass Berliner Politiker vor allem dazu da sind, einen Schritt in Richtung Landespolitik zu machen. Andere prangern die komplexe Verwaltung der Hauptstadt, einen unabhängigen Staat und die Tatsache an, dass die zwölf weitgehend unabhängigen Stadtbezirke kaum miteinander kommunizieren.

So gesehen ist das moderne Berlin in seiner heutigen Form, seit der Wiedervereinigung mehr als 32 Jahre alt, so etwas wie ein junger Erwachsener. „Das wird noch dauern“, sagt die pensionierte Journalistin Barbara Lemkes (76). „Neuen Generationen muss erst der Raum gegeben werden, neue Wege zu finden.“



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