„Jeder hat die Unruhen von 2005 im Kopf: In Paris kann es einfach aufflammen“

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Bei Unruhen in Nanterre, einem Vorort von Paris, explodierten am Montagabend Feuerwerkskörper über den Köpfen der französischen Bereitschaftspolizei.Bild AFP

In Brand gesteckte Autos, mit Molotowcocktails beworfene Beamte, die Erstürmung eines Gefängnisses: Warum sind die Reaktionen auf den Tod von Nahel M. so heftig?

„Ich denke, es ist für alle herzzerreißend, dass ein 17-jähriger Junge erschossen wurde, weil er nicht zugehört hatte, als die Polizei ihn wegen eines Verkehrsverstoßes anhielt. Zudem scheint die Polizei gelogen zu haben: Der Junge würde am liebsten einem Motorradpolizisten über den Weg laufen. Ein von französischen Medien überprüftes Video von Unbeteiligten zeigt jedoch, wie Beamte Nahel anhalten und einer von ihnen ihn mit vorgehaltener Waffe festhält. In dem Moment, in dem der Junge aufs Gas drückt, schießt der Beamte. Die Polizei steht neben dem Auto, er kann niemanden anfahren. Auch die französische Premierministerin Élisabeth Borne sagte, dass die Regeln nicht befolgt worden seien.

„Dass dies aber zu so großen Ausschreitungen führt, liegt daran, dass dieses Ereignis ein altes Gefühl berührt: dass es Polizeigewalt, Diskriminierung und Rassismus gegen junge Menschen gibt, insbesondere in den Banlieues, den Pariser Vororten.“ Zu den ersten Aufständen in den Banlieues kam es in den 1980er-Jahren aufgrund von Todesopfern bei Zusammenstößen mit der Polizei. Im Jahr 2020, kurz nach dem Tod von George Floyd in den USA, fand in Paris eine große Demonstration gegen Polizeibrutalität und Rassismus statt.

„Dahinter steckt ein noch tieferes Gefühl der Chancenungleichheit.“ Wenn ich mit jungen Leuten in den Banlieues spreche, fallen mir unzählige Beispiele dafür ein, dass sie aus seltsamen Gründen in letzter Minute bei Jobs, Praktika oder Schulen abgelehnt wurden. Ihre Postleitzahl verringert Ihre Chancen, glauben sie. Sie fühlen sich zurückgelassen.‘

Werden die Proteste von der französischen Regierung gehört?

„Bisher will die französische Regierung kein strukturelles Problem haben und spricht von Zwischenfällen.“ Typisch ist die Aussage des Innenministers nach dem Tod von Adama Traoré im Jahr 2020. Er hatte seinen Personalausweis nicht bei sich und rannte weg, als die Polizei ihn darauf ansprach, woraufhin er so hart festgenommen wurde, dass er starb.

„Minister Darmamin sagte dann: Wenn ich von struktureller Polizeigewalt höre, schnappe ich nach Luft.“ Ich dachte, das sei eine starke Aussage: Es scheint sich um eine Anspielung darauf zu handeln „Ich kann nicht atmen“die letzten Worte von Eric Garner, einem schwarzen Amerikaner, der bei seiner Verhaftung in New York starb.

„Die Forschung kommt unter anderem von Anti-Rassismus- und Menschenrechtsorganisationen.“ Amnesty International, das sich seit mehr als fünfzehn Jahren damit beschäftigt, sagt beispielsweise, dass es bei Festnahmen zu Misshandlungen, Folter und Todesfällen sowie zu gewaltsamer Unterdrückung kommt. Laut Amnesty gibt es auch Kontrollen diskriminierender Natur. Empfehlungen würden von der französischen Regierung praktisch nicht befolgt.

Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass sich etwas ändert. Beispielsweise kam es in der Zeit der gesamten Westenproteste im Jahr 2019 auch zu Polizeigewalt. Dann musste sich eine andere Gruppe damit auseinandersetzen: Überspitzt gesagt, weiße Franzosen, die nicht aus Vororten kommen, in denen es viele Probleme gibt. Für einige bedeutete das ein Umdenken: Vielleicht stimmt mit der Polizeibrutalität doch etwas nicht.“

Unterdessen verurteilte nicht nur Premierminister Borne die Erschießung von Nahel M., auch Präsident Macron nannte seinen Tod „unerklärlich und unverzeihlich“. Wie reagieren die Polizeigewerkschaften auf diese harten Worte?

„Sie sind sehr wütend. Sie sagen: Auch dieser Beamte ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist, das muss man respektieren. Mit den Worten von Borne und Macron sei das Vorgehen der Polizei nach Ansicht der Gewerkschaften bereits für falsch erklärt worden.

„Die Polizei weist darauf hin, dass Beamte auch mit Gewalt konfrontiert werden.“ Ihrer Meinung nach schüren die Äußerungen von Borne und Macron in Kombination mit den vielen Prominenten, die sich gegen die Polizei ausgesprochen haben, den Hass gegen Beamte.

Macron hielt am Donnerstag Krisenkonsultationen ab. Ist in den kommenden Tagen mit weiteren Protesten und Ausschreitungen zu rechnen?

„Das ist die große Frage.“ Jeder erinnert sich an das Jahr 2005, als in den Vororten von Paris wochenlange Unruhen ausbrachen, nachdem sich zwei Jungen auf der Flucht vor der Polizei in einem Umspannwerk versteckt hatten und einen Stromschlag erlitten hatten. Tausende Fahrzeuge und mehrere öffentliche Gebäude wurden daraufhin in Brand gesteckt, der Ausnahmezustand wurde ausgerufen.

„Angesichts der Tatsache, dass die Beziehungen zur Polizei in den Banlieues ohnehin angespannt sind und dass sich seit Jahrzehnten Unruhen über schlechte Wohnverhältnisse und Chancenungleichheit zusammenbrauen, sind alle vorsichtig. Für das gleiche Geld passiert wenig, aber jeder weiß: Es kann einfach Feuer fangen.“



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