Jahrelang sahen die Zuschauer in Tucker Carlsons Augen ein Land am Rande des Abgrunds

Jahrelang sahen die Zuschauer in Tucker Carlsons Augen ein Land


Gastgeber Tucker Carlson im Juli letzten Jahres bei einem Golfturnier in New Jersey, zusammen mit der Kongressabgeordneten Majorie Taylor Greene und dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump.Bild ANP

Tucker Carlson hat den Blick des besorgten Zuhörers perfektioniert. Mund leicht geöffnet, Augenbrauen zu einem fotogenen, empathischen Stirnrunzeln zusammengezogen. Der Moderator nickt, hypnotisiert vom Ernst der Geschichte, egal, wer ihm bei Fox News gegenübersitzt: Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme, Impfgegner, Waffenfreaks oder – natürlich – Donald Trump.

Nickend, kopfschüttelnd und seufzend wuchs Carlson (53) zu einer Ikone des rechten Amerikas heran. Jahrelang sahen sich die Zuschauer in seinen Augen ein Land widerspiegeln, das am Rande des Abgrunds taumelt. Das fand am Montag ein jähes Ende.

In einer kurzen Pressemitteilung gab Fox News bekannt, dass es sich von seinem beliebtesten Host trennt. Sein Abgang schlägt in der amerikanischen Medienlandschaft ein wie eine Bombe. Tucker Carlson heute Abend war mit rund 3,5 Millionen Zuschauern pro Tag die mit Abstand meistgesehene amerikanische Nachrichtensendung.

Kleine Worte

Fox News hat nicht viel darüber gesagt. Wir danken ihm für seine Arbeit für das Netzwerk als Moderator und zuvor als Kommentator. Der Grund wurde nicht bekannt gegeben. Carlson selbst wäre nur Minuten vorher informiert worden, berichtet Die New York Times. Bis Redaktionsschluss hatte er noch nicht geantwortet.

Carlsons Abgang erfolgt weniger als eine Woche nach dem historischen Vergleich von Fox News mit Dominion Voting Systems wegen der Verbreitung von Unwahrheiten nach den Präsidentschaftswahlen 2020. Mit 787,5 Millionen US-Dollar war dies der größte Vergleich aller Zeiten in einer US-Verleumdungsklage. In seiner Sendung tauchten regelmäßig unbegründete Betrugsvorwürfe mit Wahlgeräten auf.

Tucker Carlson war nicht immer am rechten äußeren Rand des politischen Spektrums. Er begann seine Karriere im Journalismus als Faktenprüfer für das anständige konservative Magazin Richtlinienüberprüfung. 2000 begann er beim Nachrichtensender CNN. Dort stellte er unter anderem das Debattenprogramm vor Kreuzfeuer, wo sich progressive und konservative Gäste in die Haare geraten konnten. 2005 verließ er ihn – nach eigenen Angaben aus eigenem Antrieb, sein Vertrag wurde laut CNN nicht verlängert.

2009 landete er bei Fox News, wo er 2016 eine eigene Show bekam: Tucker Carlson heute Abend. Die tägliche Nachrichtensendung punktete von Anfang an bei den Zuschauern. Er selbst bezeichnete sich selbst als „geschworenen Feind von Lüge, Wichtigtuerei, Selbstgerechtigkeit und Gruppendenken“.

Sprungbrett für Verschwörungstheorien

Im Laufe der Jahre schwenkte Carlson immer heftiger nach rechts. Er schwebte im fremdenfeindlichen, konservativen Wind um Donald Trump, den er als Kandidaten und späteren Präsidenten bejubelte. Nachdem Trump seine Wiederwahl verlor und aus den sozialen Medien verschwand, schien ihm Carlson die Rolle des konservativen Leitsterns zu entreißen: Immerhin hatte der Moderator noch immer ein Millionenpublikum.

Tucker Carlson erlaubte seinem Programm, als Sprungbrett für unzählige Verschwörungstheorien zu fungieren – und Fox News erlaubte es, gestützt durch die überwältigenden Zahlen. In seiner Show schürte Carlson Befürchtungen, dass das weiße christliche Amerika bedroht ist. Er verbreitete die rechtsextreme „Bevölkerungstheorie“, wonach weiße Christen wegen eines finsteren, elitären Komplotts durch nicht-weiße Immigranten ersetzt würden.

Im Fernsehen gab er ein einfühlsames Interview mit dem Teenager Kyle Rittenhouse, der bei einem Protest gegen Black Lives Matter zwei Menschen mit einem Maschinengewehr erschoss. Er schlug vor, dass George Floyd, ein schwarzes Opfer von Polizeibrutalität, an Drogen gestorben sein könnte und nicht an dem Knie eines weißen Polizisten an seinem Hals.

Die Verleumdungsklage, die Dominion gegen Fox News eingereicht hat, hat Carlson in ein anderes Licht gerückt. Der Moderator stand ganz oben auf der Zeugenliste, was für ihn und seinen Arbeitgeber zu einem schmerzhaften Moment vor Gericht hätte führen können. Dominion hatte eine Tonne interner Kommunikation erworben – und Carlson war an der Spitze.

„Ich hasse ihn mit Leidenschaft“

Textnachrichten enthüllten, dass Carlson Vorwürfen des Wahlbetrugs in seiner eigenen Show keinen Glauben schenkte („Absurd!“). Auch seine Meinung über Präsident Donald Trump stellte sich als ganz anders heraus als das, was er öffentlich geäußert hatte. „Ich hasse ihn mit Leidenschaft“, schrieb Carlson 2021. Er hoffte, ihn nicht noch einmal in seiner Show hosten zu müssen. „Ich kann es kaum erwarten.“ Vor zwei Wochen war Trump erneut zu Gast bei Carlson.

Aufgrund des Vergleichs musste Carlson nicht öffentlich antworten. Trotzdem ist er nicht aus rechtlichen Schwierigkeiten heraus. Seine frühere Redakteurin Abby Grossberg hat eine Klage wegen des „frauenfeindlichen und diskriminierenden“ Arbeitsumfelds in Carlsons Redaktion eingereicht.

Carlsons Abgang erfolgt sofort. Die Sendung am vergangenen Freitag war seine letzte. Ein Nachfolger ist noch nicht bestimmt. Das Programm wird vorerst unter dem Namen weitergeführt Fox News heute Abend. Minuten nach der Ankündigung stürzte der Aktienkurs der Fox Corporation um 5 Prozent ab. Zum Vergleich: Nach der Rekordabrechnung in der vergangenen Woche waren es nur noch 2 Prozent.

Die große Frage: In welchem ​​anderen Medium zeigt Carlson fortan seinen besorgten Blick? Und bewegen sich seine Zuschauer mit ihm?

Holländer in Tucker Carlsons Show

Im Laufe der Jahre waren auch zwei Niederländer Gäste von Tucker Carlson. Der erste ist der Historiker Rutger Bregman, der für De Correspondent schreibt. Bregman erregt internationale Aufmerksamkeit, als er die Teilnehmer eines Panels bei einem Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos zurechtweist. All das fromme Gerede über die Welt verbessere ihren Unsinn, glaubt Bregman, wenn reiche Leute gleichzeitig Steuern hinterziehen: „Tax, tax, tax, the rest is bullshit.“

Eine Woche später, im Februar 2019, darf Bregman seine Botschaft an Carlson wiederholen. Er glaubt, dass er gut zu seinen anti-globalistischen, WEF-hassenden Unterstützern passt. Nur bekommt er das Interview nie zu sehen. Denn Bregman misst nicht nur die Reichen in Davos, sondern auch die Millionäre, die für Fox News arbeiten, wie etwa Tucker Carlson. Denn warum argumentieren sie selbst immer gegen höhere Steuern? Nach einigen kritischen Bemerkungen von Bregman tobt Carlson: „Warum fickst du dich nicht selbst?“ Bregman teilt schließlich selbst das Filmmaterial des Interviews.

Ein zweiter Niederländer, der bei Carlson zu Gast ist, ist ein echter Seelenverwandter: Eva Vlaardingerbroek, ehemalige Abgeordnete des Forums für Demokratie. Mit einem roten Bauerntaschentuch um den Hals kann sie die niederländische Stickstoffkrise „interpretieren“: eine Angelegenheit, die die internationale radikale Rechte im August 2022 nach großflächigen Bauernblockaden auf Autobahnen plötzlich beunruhigt.

Laut Vlaardingerbroek ist die Krise nichts weniger als eine Fabrikation der Regierung, um Land von Bauern zu stehlen. Weil die Regierung das Land zum Bau von Häusern für Einwanderer nutzen will, wiederholt Vlaardingerbroek rechtsradikale Verschwörungstheorien. Landwirte sind ein Hindernis für die „globalistische Agenda“ der Regierung. Danach kann sie mehrmals bei Carlson fabbeln. Mitte April behauptet sie, die Regierung versuche, der Bevölkerung das Essen von Insekten – angeblich dem Klima zuliebe – als „Gehorsamstest“ aufzuzwingen.

Joram Bolle



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