Italiens „geheime“ Rettungsaktionen im Mittelmeer enthüllten: „Das Boot war bereits im Bild“

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Migranten auf der Geo Barents, einem Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer, 16. Mai.Bild Jelle Krings für die Volkskrant

Während er am Pier von Catania entlang schlendert, bleibt Sergio Scandura plötzlich stehen. Er hört in der Ferne ein Geräusch und öffnet auf seinem Handy eine Track-App, eine dunkle Karte voller bewegter Pixel. Fehlalarm, kommt er nach ein paar Sekunden zu dem Schluss. Kein Frontex-Patrouillenflugzeug, sondern ein militärisches Trainingsflugzeug. Es gibt keine Rettungsaktion in der Gegend. Ruhig setzt Scandura seinen Spaziergang durch den Hafen fort.

Der sizilianische Investigativjournalist (56) geht seit sechs Jahren so durchs Leben. Er springt ständig zwischen GPS-Ortungssystemen, Häfen und seinem Telefonbuch hin und her, in dem sich ein paar „tiefe Quellen“ aus der maritimen Welt verstecken.

Das Mittelmeer ist ein schwarzes Loch, seufzt Scandura. Sein Ziel ist es, Licht in das Loch zu bringen, in dem dieses Jahr mindestens 1.875 Menschen ertranken. Scandura dokumentiert und veröffentlicht die von Italien im Mittelmeer durchgeführten Bootsrettungen von Migranten. Das hört sich vielleicht einfach an, ist aber alles andere als das.

Denn obwohl die italienische Küstenwache in diesem Jahr bereits Zehntausende Flüchtlinge und Migranten auf See gerettet hat, hält das Land diese Arbeit gewissenhaft aus der Öffentlichkeit heraus. Anders als das Bild vermuten lässt, führt die italienische Küstenwache durchweg viel mehr Rettungseinsätze durch als die Schiffe von Hilfsorganisationen. Im Jahr 2022 waren dies 54 Prozent aller Ankünfte auf dem Seeweg, verglichen mit 14 Prozent durch NGOs.

Ein Fischerboot mit 600 geretteten Migranten an Bord im Hafen von Catania, 12. April.  Bild Fabrizio Villa/Getty

Ein Fischerboot mit 600 geretteten Migranten an Bord im Hafen von Catania, 12. April.Bild Fabrizio Villa/Getty

„Wir haben eine der besten Küstenwachen der Welt“, sagt Scandura stolz, nachdem er sich an seinem Stammkaffeekiosk in einer Ecke des Hafens niedergelassen hat. „Darüber kommt aber kaum etwas heraus.“ Er kämpft jeden Tag gegen dieses Schweigen an und sucht nach Mustern in einem Gewirr aus GPS-Punkten, Schiffskommunikation, Drohnenbildern und Hafenbesuchen. Er behält im Auge, welche Schiffe da sind und was noch wichtiger ist: welche nicht und warum sind sie weggefahren?

Aber was Scandura auszeichnet, sind die Informationsschnipsel, die er von seinen Quellen bei der Küstenwache erhält. Zum Beispiel ist er oft der Erste, der erfährt, dass Italien still und leise Hunderte von Menschen irgendwohin bringt, eine Nachricht, die er der Welt über sein tägliches Update auf Radio Radicale verkündet.

Über den Autor
Rosa van Gool ist Korrespondentin für Italien, Griechenland und den Balkan de Volkskrant. Sie lebt in Rom.

Das Schweigen rund um die Rettungsaktionen hat tiefere politische Wurzeln als die derzeitige rechte Regierung von Giorgia Meloni. Seit 2017 führen verschiedene italienische Politiker Kampagnen gegen Hilfsorganisationen, die Migrantenboote auf See retten. Die Tatsache, dass Italien selbst die mit Abstand meisten Rettungsaktionen durchführt, ist in dieser an den rechten Wähler gerichteten Geschichte äußerst unpassend.

Sergio Scandura, Journalist aus Italien.  Figur Rosa van Gool

Sergio Scandura, Journalist aus Italien.Figur Rosa van Gool

Die Folge der mangelnden Aufmerksamkeit ist nicht nur, dass ein falsches Bild entsteht – NGO-Schiffe als „Taxis auf See“ seien die Quelle allen Übels –, sondern auch, dass es kaum Einblick und Kontrolle darüber gibt, wie die Rettungen stattfinden. Selbst Scandura kann den Ausgang einiger Boote, die einen Notruf absetzen, nicht nachvollziehen. Auch heute sucht er nach einem Boot mit 51 Menschen an Bord, die sich zwei Tage zuvor bei der Notrufnummer „Alarm Phone“ in Seenot gemeldet hatten. Sie wurden wahrscheinlich von der libyschen Küstenwache abgefangen und nach Nordafrika zurückgebracht, es ist aber auch möglich, dass sie unbemerkt ertrunken sind.

Weniger Rettungskapazitäten

Früher war das ganz anders. Vor 2017 waren Rettungsaktionen in Italien nicht so politisiert und es kamen viel mehr offizielle Informationen an die Öffentlichkeit. Die italienische Küstenwache nahm Journalisten an Bord oder veröffentlichte eigene Aufnahmen der durchgeführten Rettungsaktionen.

Tatsächlich startete Italien im Oktober 2013 nach einem großen Schiffsunglück vor Lampedusa, bei dem 368 Menschen ertranken, eine einjährige massive Rettungsmission, Mare Nostrum. In einem Jahr wurden mehr als 100.000 Menschen aus Seenot gerettet. Doch in Italien mehrte sich unterdessen die Kritik, vor allem an den hohen Kosten für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Die EU beschloss daraufhin eine gemeinsame Mission, Triton. Sein Budget war dreimal kleiner als das von Mare Nostrum, woraufhin es im April 2015 vor Libyen zu einer Reihe schwerer Schiffbrüche kam. Es gab eine weitere Reaktion: die europäische Militäroperation Sophia, die bis 2020 dauern sollte, im Laufe der Jahre jedoch zunehmend reduziert wurde.

Ein Flüchtlingsboot vor der italienischen Insel Lampedusa, 29. Juni.  Bild Olivier Weiken / DPA

Ein Flüchtlingsboot vor der italienischen Insel Lampedusa, 29. Juni.Bild Olivier Weiken / DPA

Jetzt weht ein ganz anderer politischer Wind über das Mittelmeer als noch vor zehn Jahren, sieht Scandura vom Hafen von Catania aus. „Auf große Schiffsunglücke folgten in der Vergangenheit immer mehr Rettungskapazitäten. Aber nach der Katastrophe von Pylos passiert nichts.‘ Am 14. Juni kenterte ein schwer überladenes Fischerboot, das aus dem Osten Libyens auslief, vor der griechischen Küste und tötete mehr als 600 Menschen. Nur 104 Menschen an Bord überlebten den Schiffbruch. Seitdem gibt es viel Kritik an der griechischen Küstenwache. Überlebende berichten, dass die Griechen versucht hätten, das Boot mit einem Seil zu ziehen, woraufhin es gekentert wäre.

Scandura gibt auf der Grundlage der ihm vorliegenden Daten an, dass rund um das Fischerboot ohnehin „große Inkompetenz“ vorgelegen habe. Auf seinem Laptop zeigt er als Beispiel eine Nachricht einer griechischen Küstenstation, in der die Koordinaten des Bootes völlig falsch angegeben wurden. Es ist ihm nicht klar, warum; vielleicht ein einfacher Tippfehler.

Er prangert auch die Rolle der EU-Grenzschutzagentur Frontex an, die seiner Meinung nach selbst eine Rettungsaktion hätte starten sollen. „Sie hatten das Boot schon lange aus der Luft gesehen. „Er befand sich in internationalen Gewässern, sodass sie nicht auf die Erlaubnis der Griechen warten müssen.“

Form von Omerta

Die Katastrophe von Pylos ist das zweite große Schiffsunglück in diesem Jahr. Ende Februar explodierte ein Holzboot vor der Küste Kalabriens und ertranken mindestens 94 Menschen. Nach der Katastrophe bemerkte Scandura, dass die italienische Küstenwache plötzlich wieder begann, über Pressemitteilungen und Videos zu kommunizieren. Der Trendumbruch dauerte nur wenige Tage, aber es war, als wolle die Küstenwache, die damals unter heftigem Beschuss stand, zeigen, dass sie normalerweise ihren Job macht.

Auch das italienische Innenministerium mache nur minimale Angaben zu den Menschen, die gerettet werden, sagt Scandura. Nur die Anzahl der Ankünfte pro Tag, ohne Aufschlüsselung nach Boot, Abfahrtsort, Nationalität oder Alter. Es gibt jährlich eine Liste der Nationalitäten, aber ein Viertel davon fällt in die Kategorie „Sonstige“.

„Sie tun so, als sei es ein Staatsgeheimnis“, schimpft der Sizilianer. Wenn gerettete Personen an Land gebracht werden, sind die Häfen meist dicht verschlossen. Mehr als eine aus großer Entfernung gefilmte Aufnahme kommt selten heraus, Gespräche mit geretteten Menschen sind undenkbar. Er erwähnt immer die minimalen persönlichen Informationen, die Scandura erhalten kann: Manchmal ist das die Anzahl der Frauen und Kinder an Bord, manchmal kann er nach der Ankunft etwas über die Länder sagen, aus denen sie kommen. In diesem Jahr sind viele Menschen aus der Elfenbeinküste und Guinea auf den Booten von Tunesien nach Lampedusa. Auf den Booten aus Libyen sind neben Subsahara-Afrikanern auch viele Ägypter, Bangladescher, Pakistaner und Syrer.

Ein Migrant betet einen Tag nach seiner Rettung im Mittelmeer auf der Geo Barents, dem MSF-Schiff.  Bild Jelle Krings für die Volkskrant

Ein Migrant betet einen Tag nach seiner Rettung im Mittelmeer auf der Geo Barents, dem MSF-Schiff.Bild Jelle Krings für die Volkskrant

„Die Behörden wollen sie unsichtbar machen“, sagt Scandura. „Es ist eine Form von Omerta.“ Der Vergleich mit dem großen Schweigen über die Mafia ist nicht zufällig gewählt. Scandura war jahrelang an der Gerichtsberichterstattung für Radio Radicale beteiligt. Er verfolgte aufmerksam die großen Prozesse gegen die sizilianische Mafia Cosa Nostra in den 1990er Jahren.

Der Radiosender, für den er während seiner gesamten Karriere gearbeitet hat, geht auf die Partito Radicale zurück, eine linkslibertäre Partei, die inzwischen aufgelöst ist. Der Radiosender wurde 1975 gegründet, um eine Alternative zum öffentlichen RAI anzubieten. Durch einen technischen Trick begann Radio Radicale, Sitzungen im Parlament live zu übertragen. Damals ein Akt der Rebellion, doch nun erhält der Sender für diese Aufgabe öffentliche Gelder.

hermetisch verschlossen

Scanduras Werk, von der Mafia bis zur Migration, steht in derselben Tradition: das zu veröffentlichen, was andere lieber nicht öffentlich machen möchten. Er macht keinen Hehl aus seiner politischen Präferenz. Er dachte einst selbst über eine Karriere beim Partito Radicale nach, sieht sich heute aber als Journalist und nicht mehr als Aktivist. Er prüft alle Fakten dreifach, wohlwissend, dass ihn die politischen Gegner genau beobachten.

Vor einigen Jahren wurde er im Rahmen einer von vielen (erfolglosen) Ermittlungen zur Zusammenarbeit zwischen Menschenschmugglern und NGO-Schiffen sogar monatelang von der Polizei angegriffen. Er sei daran gewöhnt, sagt Scandura lakonisch. Auch während der Mafia-Prozesse wurde er abgehört.

Doch so wenig ihn das Abhören selbst interessiert, so sehr sorgt ihn die Tatsache, dass Richter die Unwahrheiten über Seenotrettungen ernst genug genommen haben, um sie vor Gericht zu untersuchen. Scandura ist pessimistisch, was die Zukunft der Rettungsdienste angeht. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass seine Arbeit so viel verändern kann, aber er scannt weiterhin Meer und Himmel und rekonstruiert, was zwischen den Wellen passiert.

Denn Scandura versteht sich nicht nur als Detektivin, sondern auch als Archivarin des Mittelmeerraums. Ein umfassenderes Archiv der Rettungsaktionen gibt es wahrscheinlich nur im polnischen Frontex-Hauptquartier. Er träumt davon, dass die hermetisch verschlossenen Türen in Warschau eines Tages geöffnet werden, doch bis dahin will Scandura nicht tatenlos zusehen. „Ich möchte ein Stück der Wahrheit wiederherstellen.“



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