Israel teilt die palästinensische Stadt in zwei Teile und niemand darf die Straße überqueren

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Das Leben in der palästinensischen Stadt Hawara steht seit mehr als zwei Monaten still: Die israelische Armee hält hier seit dem Hamas-Angriff eine Abriegelung aufrecht. Alle Geschäfte mussten schließen, der Zoohandlungsbesitzer durfte nicht einmal seine Vögel füttern.

Sacha Kester

„Es roch, als ob eine verwesende Leiche in meinem Laden lag“, sagte der Besitzer eines Supermarkts in Hawara im Westjordanland. „Ich hatte Fleisch und frisches Gemüse im Wert von Tausenden Euro in den Regalen, aber die israelische Armee gab uns keine Zeit, den Laden zu räumen, bevor wir schließen mussten.“

In Hawara nieselt es leicht und alles ist grau: der Himmel, die geschlossenen Metallläden entlang der Hauptstraße und die Gesichter der Menschen. Es ist Samstag und normalerweise ist viel los: An diesem Tag haben die Israelis frei und dann kommen die in Israel lebenden Palästinenser zum Einkaufen nach Hawara, weil es hier billiger ist.

Aber Hawara ist seit mehr als zwei Monaten gesperrt. Das begann am 5. Oktober, als Siedler aus den Siedlungen rund um die Stadt zum Laubhüttenfest an einem Kreisverkehr der Hauptstraße ein Zelt aufschlagen wollten. Um Ärger zu vermeiden, musste die Stadt abgeriegelt werden: Geschäfte wurden geschlossen und palästinensische Bewohner in ihren Häusern eingesperrt.

Über den Autor
Sacha Kester schreibt de Volkskrant über Belgien, Israel und den Nahen Osten. Zuvor war sie Korrespondentin in Indien, Pakistan und im Libanon.

Die Stadt ist berüchtigt. Siedler fahren auf dem Weg zu ihren Siedlungen die Hauptstraße durch Hawara entlang, und palästinensische Aufständische haben hier mehrere Israelis erschossen. Die Kolonisten wiederum greifen regelmäßig Hawara an. Dann kommen sie von den Hügeln ihrer Siedlungen herunter, um Menschen zu verprügeln und Feuer zu legen. Im Februar dieses Jahres tobten Hunderte Siedler stundenlang: Dutzende Häuser und Geschäfte sowie Hunderte Autos gingen in Flammen auf. Ein palästinensischer Zivilist wurde getötet.

Verlängerter Lockdown

Wie auch immer, ein Lockdown. Um sicher zu sein. Wegen des religiösen Festes, das an diesem Kreisverkehr gefeiert werden musste. „Aber nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober wurde der Lockdown verlängert“, sagt der Supermarktbesitzer. „Wochenlang durfte ich nicht in mein Geschäft gehen und die Bewohner mussten über die Hügel in andere Dörfer fahren, eine Reise, die manchmal mehrere Stunden dauerte, um woanders Lebensmittel zu bekommen.“ Erst nach mehr als einem Monat durften einige Geschäfte wieder öffnen. Die Supermärkte, der Bäcker, der Metzger. Der Rest bleibt geschlossen.

Israelische Siedler haben Davidsterne auf den Kreisverkehr in der verlassenen Hauptstraße von Hawara gemalt. Die Stadt im Westjordanland ist seit dem 5. Oktober abgeriegelt.Bild Faiz Abu Rmeleh für de Volkskrant

Der Supermarktbesitzer möchte seinen Namen lieber nicht in der Zeitung sehen, denn der Laden eines Kollegen wurde von der Armee in Stücke gerissen, nachdem er in den sozialen Medien seine Besorgnis über die Opfer in Gaza geäußert hatte. Der Mann kocht Kaffee auf einem Gasherd vor seinem Geschäft und erzählt von dem Gestank, als er endlich in sein Geschäft zurückkehren durfte. „Ich habe alles weggeworfen und gereinigt. Tausende Euro verloren. Und nun?‘ Er seufzt. „Ich traue mich nicht, viele frische Sachen zu kaufen.“ Man weiß nie, wann wir wieder schließen müssen.“

Lintdorp

Hawara ist eigentlich eine Art Banddorf, wie man es oft in Belgien sieht. Die Route 60, die Straße, die durch das besetzte Westjordanland führt, verläuft mitten hindurch, und entlang der Seite zwischen Häusern und Wohnungen haben sich Hunderte Geschäfte angesiedelt. Auf beiden Seiten der Straße schlängeln sich Wohngebiete die Hügel hinauf. Entlang der Strecke liegen große Betonblöcke, die von israelischen Soldaten mit schussbereiten Waffen besetzt sind. Die Rotunde, in der das Zelt für das Laubhüttenfest errichtet wurde, ist leer. In der Mitte steht ein einzelner Olivenbaum und Siedler haben blaue Davidsterne auf den Betonrand drumherum gemalt.

„In den ersten zehn Tagen des Lockdowns durften wir nicht einmal die Hauptstraße zu Fuß überqueren“, sagt Moeen Dmeidi, der Bürgermeister von Hawara. „Es war wie in Ost- und Westdeutschland.“ Die Menschen konnten ihre Angehörigen nicht besuchen, die Kranken konnten das Krankenhaus nicht erreichen. Erst nach langen, schwierigen Verhandlungen erhielten wir die Erlaubnis, zumindest auf die andere Seite zu gehen, unter den wachsamen Augen der Soldaten, die einem sofort entgegentreten, wenn man über den Bürgersteig schlendert.“

Dmeidi sitzt in seinem Büro: einem geräumigen Raum, in dem aus einer schwarz-goldenen Kanne kleine Tassen starken Kaffee eingeschenkt werden. Sein Handy klingelt ständig, doch der Bürgermeister (in Jeans, schwarzer Lederjacke und großem Klingelton) lehnt jeden Anruf ab. Im Oktober durfte er als Einziger mit seinem Auto durch die Stadt fahren. „Aber ich musste auch für jede Fahrt vorher eine Erlaubnis einholen.“

Er zeichnet eine Karte von Hawara auf ein Blatt Papier und klebt zwei Kreuze darauf. „Einer meiner Angestellten wohnt hier, an dieser Kreuzung, auf der anderen Straßenseite. Ich brauchte ihn im Rathaus, um ein paar Papiere zu unterschreiben, und er ist genau hier. Anschließend zieht Dmeidi mit einer anmutigen Bewegung eine kurze Linie zwischen den beiden Orten. „Normalerweise braucht er für diese Strecke drei bis vier Minuten.“ Jetzt hat er zwei Stunden gebraucht.‘

Supermarktbesitzer konnten alle ihre frischen Artikel wegwerfen, als die Armee ihnen erst nach einigen Wochen erlaubte, in ihre Geschäfte zurückzukehren.  „Es roch wie eine verwesende Leiche.“  Bild Faiz Abu Rmeleh für de Volkskrant

Supermarktbesitzer konnten alle ihre frischen Artikel wegwerfen, als die Armee ihnen erst nach einigen Wochen erlaubte, in ihre Geschäfte zurückzukehren. „Es roch wie eine verwesende Leiche.“Bild Faiz Abu Rmeleh für de Volkskrant

Kopfschüttelnd erzählt Dmeidi von einem weiteren aufgetretenen Problem. „Viele Palästinenser bezahlen Wasser und Strom mit einer Prepaid-Karte, die man aber nur in Geschäften an der Hauptstraße aufladen kann.“ Dies verhandelte er auch mit den Israelis, und schließlich erhielt die Gemeinde die Erlaubnis, die Karten bei den Menschen zu Hause abzuholen und für sie aufzuladen.

Angst vor Eskalationen

Wenn man zu viel Druck ausübt, kann es explodieren, sagt ein arabisches Sprichwort, und genau das befürchtet Bürgermeister Dmeidi. „Der Druck auf das Westjordanland ist so hoch, es gibt so viel Gewalt und es gibt so viele Einschränkungen, dass die Menschen kurz davor stehen, zu explodieren. „Es wird viel über Gaza geredet, wo die Situation natürlich schrecklich ist, aber die Welt sieht nicht, was hier passiert.“

Auch Bassem Dar Muhammed befürchtet Eskalationen. Der 59-jährige Mann sitzt auf einem Plastikstuhl vor dem Supermarkt und trinkt Kaffee. „Die aktuelle Situation ist sehr schlimm, aber ich befürchte, dass die Zukunft noch viel düsterer sein wird“, seufzt er. „Sie wollen uns hier nicht haben.“ Die Siedler und die israelische Regierung werden uns weiterhin schikanieren, in der Hoffnung, dass wir aufgeben und einpacken, damit das Land ihnen gehört.“

Bassem Dar Muhammed befürchtet, dass die Zukunft noch viel düsterer wird.  „Die Israelis wollen uns hier nicht haben.“  Bild Faiz Abu Rmeleh für de Volkskrant

Bassem Dar Muhammed befürchtet, dass die Zukunft noch viel düsterer wird. „Die Israelis wollen uns hier nicht haben.“Bild Faiz Abu Rmeleh für de Volkskrant

Das sagen sie selbst schamlos. Nach dem Pogrom im Februar erklärte der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, Hawara solle „vom Erdboden gewischt“ werden und der Staat solle dies tun. Siedler rufen derweil regelmäßig: „Das gehört uns!“ an die Einwohner von Hawara, sagt Dar Muhammed. „Wir sollten nach Jordanien oder in ein anderes arabisches Land ziehen.“

Tierhandlung

Gegenüber dem Supermarkt ist ein weiterer Laden geöffnet. Die Zoohandlung. In den Regalen gibt es Hunde- und Katzenfutter, daneben bunte Geschirre und weiter hinten im Laden liegen große Tüten mit Tierfutter. „Wir verkaufen auch Lebensmittel und deshalb durften wir Gott sei Dank wieder öffnen“, sagt Inhaber Hisam Dmeidi. „Wir haben drei Familien, die von diesem Unternehmen leben.“

Allerdings kommt kaum jemand und Dmeidi (kein Bezug zum Bürgermeister) sagt, dass viele Unternehmer steigende Schulden haben. „Das Personal muss bezahlt werden, die Miete muss auch weiterbezahlt werden.“ Er seufzt besorgt, während er Samen in den Futterspender für den Vogelkäfig legt. Warten Sie eine Minute. Verkauft er auch Vögel? Und wie lief das während des Lockdowns? Dmeidi schüttelt traurig den Kopf, sein Sohn Kusai greift zum Handy, um nach Fotos zu suchen. Tränen steigen ihm in die Augen, als er Bilder von Käfigen voller zerknitterter Leichen zeigt. „Wir durften nicht hierher kommen, also mussten sie vier Wochen lang ohne Nahrung und Wasser auskommen.“ Wir hofften, dass sie noch am Leben waren. Aber nun ja, sie waren alle tot.‘



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