In ihren Fitnessvideos war kein Platz für einen alten Mann auf einer Bank

Epos Aera Tor Uebertreibung ist in den sozialen Medien zur
Lisa Bouyeur

Der Mann – er hätte eine Figur aus einer dieser knochentrockenen britischen Komödien sein können – geht gemächlich ins Bild und setzt sich hustend und keuchend auf eine Bank. Jeden Tag geht er hierher und sitzt dann immer auf dieser bestimmten Bank. Heute erwartet er einen Anruf, sein Handy hat er schon parat. Bisher nichts Besonderes, aber ein paar Meter entfernt streamt eine junge Frau – Pferdeschwanz, Sportleggings, Steppjacke – selbst im Livestream. Die Bank ist Teil des Dekors, in dem sie ihre Follower über ihre gerade absolvierte Laufeinheit informiert. Sie hat sich in letzter Zeit auch sehr gesund ernährt und darauf geachtet, dass sie gut hydriert bleibt. Dann erscheint plötzlich dieser seufzende Mann päpstlich. „Nur eine Minute“, sagt sie den Zuschauern. Möchte er sich vielleicht auf eine Bank weiter unten an der Straße setzen, danke im Voraus.

Was dann entsteht, ist nichts weniger als ein Kulturkampf, ein frontaler Zusammenstoß zwischen der Personifikation von Online und dem inkarnierten Offline. Nein, hier geht es ihm gut, antwortet der Mann. Seine Beine sind müde, setz dich eine Bank weiter, ‚Liebe‘. Ah, komm schon, die Frau versucht es immer noch. Die Kamera sitzt genau richtig auf dem Stativ. Bitte? Dann ändert sich ihr Ton. Du ruinierst das Bild, sie beißt ihn. Ihre Follower schauen sich ihre Fitnessvideos nicht an, um einen alten Mann auf einer Bank sitzen zu sehen. Der Mann winkt entzückt in die Kamera – „Hallo Leute!“ – auf keinen Fall die Absicht, einen Zentimeter nachzugeben. Und hatte er richtig verstanden? Ihre Anhänger? „Oh, bist du jetzt Jesus, oder?“ Nach ein paar Minuten des Gerangels tropft die Frau irritiert ab, noch nicht ahnend, wie viral ihr Live-Stream gehen würde.

Denn natürlich verbreitete sich das Video diese Woche wie ein Ölteppich in den sozialen Medien. Fotos und Videos von Influencer-like Typen, die mit dem „echten“ Leben in Kontakt kommen (soweit man das noch unterscheiden kann) garantieren immer viele Views und Likes. Bernie Sanders, der mit langem Gesicht an einem Zecken kitzelnden Mädchen vorbeimanövriert, einem hockenden fitten Mädchen, das im Fitnessstudio auf ihre Dreharbeiten angesprochen wird. Der Instagram-Account Influencers in the Wild sammelt seit Jahren auf frischer Tat fotografierte Frauen, die in der Brandung knien, während sich ihre Fotografen für ein optimales Hüft-Gesäß-Verhältnis auf dem Boden ausstrecken müssen.

Der Fitness-Vlogger und der unnachgiebige Mann auf der Bank passen genau in dieses Erfolgsrezept, und die Zuschauer standen Schlange um sie. Seiten wurden gewählt, Positionen diskutiert, Gewinner erklärt. Der Mann war ein Boss, dachte man, konnte Netflix ihm nicht seine eigene Show geben? Der Mann war unhöflich und herablassend, der andere dachte, wir sollten ihn nicht als Helden bezeichnen, nur weil wir Influencer nervig finden.

Könnte das der Grund sein, warum diese Art von Bildern so beliebt ist? Nur weil wir Influencer nervig finden? Weil wir endlich nicht nur den Auftritt und den Applaus sehen, sondern auch feststellen, dass die Popularität in den Startlöchern bereits verblasst? Oder hat es einfach etwas Befremdliches, wenn die Instagrammer und Tiktoker von unseren Bildschirmen Teil des öffentlichen Raums werden? Ihr Publikum sind nicht Passanten auf der Straße – im Hier und Jetzt – sondern Passanten im Internet, irgendwo in der nahen Zukunft. Menschen leben nebeneinander, es wird eine andere Sprache gesprochen.

Und natürlich ist es auch einfach schön, sich mit dem Mann auf der Bank, dem gehetzten Bernie Sanders, dem kamerascheuen Mitsportler und all den Strandbesuchern, die einfach versuchen, ruhig in der physischen Welt zu leben, identifizieren zu können. Solange wir uns sagen, dass wir auf dieser Seite des Kulturkampfes stehen, ist unsere Bildschirmzeit nicht allzu schlecht.



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