Im Kino verabschieden sich Polen jubelnd von der PiS-Partei: „Wir werden wieder ein cooles Land“

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Jubel im Warschauer Kinoteka-Kino, als die Abstimmungsergebnisse bekannt gegeben werden.Bild Piotr Malecki für de Volkskrant

Sollte die Regierung „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bei der Vertrauensabstimmung im polnischen Unterhaus keine Mehrheit erreichen, wird es Resignationsrufe geben. Prost, Applaus. Dann rufen sie lautstark und wedeln mit den Armen: „Do wi-dze-nia“ – bis bald! Nicht im halbkreisförmigen Unterhaus (Sejm) selbst, sondern im Hauptsaal des Kinoteka-Filmhauses in Warschau. Hier sahen 400 Menschen auf der großen Leinwand, wie Polen sich nach acht Jahren von der PiS verabschiedete – und später am Abend Donald Tusk als seinen neuen Ministerpräsidenten begrüßte.

In Polen lebt die Demokratie. Deutlich wurde dies bei den Wahlen am 15. Oktober mit einer historisch hohen Wahlbeteiligung von 74 Prozent. Vor allem polnische Jugendliche stimmten in großer Zahl ab. Auch im Kino schlurft vor allem die jüngere Generation ab 10 Uhr morgens mit Popcorn und am späteren Nachmittag Bier an den Kinoplätzen vorbei.

Über den Autor
Arnout le Clercq ist Korrespondent für Mittel- und Osteuropa de Volkskrant. Er lebt in Warschau.

„Es ist ein historischer Moment“, sagt der 30-jährige Origami-Künstler Dominik Kazuś aus Konin, Zentralpolen. „Und dann kann man es auch im Kino sehen: einzigartig.“ Er stand um 5 Uhr morgens auf, um den Zug zu erreichen. Polen verändert sich langsam, wie der Optimismus nach den Wahlen und fröhliche Ereignisse wie diese Kinovorstellung beweisen. „Wir werden wieder ein cooles Land“, sagt Kazuś zufrieden.

Dominik Kazus ist heute um 5 Uhr aufgestanden, um ins Kino zu gehen.  Bild Piotr Malecki für de Volkskrant

Dominik Kazus ist heute um 5 Uhr aufgestanden, um ins Kino zu gehen.Bild Piotr Malecki für de Volkskrant

Eigentlich war es ein Witz. „Das würde ich mir im Kino ansehen“, schrieb ein Redakteur der satirischen Wochenzeitung NIE auf Instagram über die Sitzungen des Sejm, wo es oft knistert. Kinoteka, das sich im berühmten Kultur- und Wissenschaftspalast im Herzen der Hauptstadt befindet, ließ sich das nicht zweimal sagen. Nachdem sie die Erlaubnis des Sejm erhalten hatten, flogen die – übrigens kostenlosen – Tickets aus der Tür. „Die ersten vierhundert waren innerhalb von acht Minuten weg“, sagt Managerin Maria Majchrzak. Für die Vorführung wurde im Kino ein zusätzlicher Raum eröffnet.

‚Sejmflix‘

Normalerweise ziehen die Verhandlungen des polnischen Unterhauses politische Junkies und Journalisten an. Doch seit der Wahl erfreuen sich die Sessions großer Beliebtheit, auch auf YouTube: Der Rekord lag bei 1,4 Millionen Zuschauern an einem Tag. Außerhalb des Kinosaals schauten am Montag mehr als eine Viertelmillion Menschen über das Internet zu. Als Vorsitzender ist der ehemalige Fernsehmoderator Szymon Hołownia beliebt, mit Ironie und Humor hält er die hitzigen Diskussionen im Zaum. Manche Polen nennen es liebevoll „Sejmflix“.

Und sie wollen wissen, was als nächstes passiert. PiS hat in den letzten Wochen an der Macht festgehalten. Obwohl die Partei bei den Wahlen die stärkste Partei wurde, verfügt sie im Unterhaus nicht über eine Mehrheit. Tusk hingegen schon, mit einer Koalition aus drei Parteien. Doch die erste Chance zur Regierungsbildung bekam die PiS vom Verbündeten Duda. Dieser Versuch war von vornherein aussichtslos und verzögert vor allem eine Regierung des Erzfeindes Tusk. PiS verschafft sich am Montag auch Zeit, indem sie Morawiecki unzählige Fragen stellt, die er in einer langen Rede beantwortet. Kurz vor der Abstimmung stöhnt der Kinosaal vor gelangweiltem Ärger.

Es war der Abgesang der PiS. „Jetzt kommt der Wandel“, sagt Studentin Sabina (21, will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung haben). „Ich bin hoffnungsvoll. „Ich liebe dieses Land, jetzt habe ich das Gefühl, dass ich dort bleiben kann.“ Sie interessiert sich für Politik, vermied aber die Sitzungen des Unterhauses vor den Wahlen. „Zu viel Hassrede.“ Die vergangenen acht Jahre seien politisch deprimierend gewesen, sagt sie. Deshalb machen sich junge Polen gerne darüber lustig. Das schafft Solidarität. „Man fühlt sich nicht allein, so wie heute im Kino.“

Ironischer Applaus

Doch da PiS auf dem Weg zum Austritt ist, ist der Humor weniger schwarz. „Die Leute lachen auch, weil sie wissen, dass die schlechten Zeiten vorbei sind“, sagt Majchrzak von Kinoteka. Der ständig geschäftige Saal ist voller Freude. Als der betagte PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński eine Rede darüber hält, was seiner Meinung nach unter der vorherigen Tusk-Regierung (2007–2015) schief gelaufen ist, erhält er am Ende ironischen Applaus. Wie echte Begeisterung klingt, hört man im tosenden Applaus für Barbara Nowacka (Bürgerplattform, Tusks Partei), die der PiS ihre Rückseite der Zunge zeigt.

In Kinoteka finden Sie Polens fortschrittliche Blase. Mehr als ein Drittel des Landes hat tatsächlich für PiS gestimmt. Doch die jungen Leute spüren, dass sie nun an der Reihe sind. „Seit acht Jahren warte ich auf eine andere Regierung“, sagt Filip Korol (27) aus dem nahegelegenen Łódź. Der frischgebackene Doktor entschied innerhalb von dreißig Sekunden, dass er diese Kinovorstellung unbedingt sehen musste. „Seit den Wahlen engagieren sich junge Menschen mehr denn je in der Politik.“ Ich glaube nicht, dass vor drei Monaten irgendjemand hier gedacht hätte, dass wir den Sejm im Kino sehen würden.

Am Montagabend erhielt Tusk die Mehrheit der Stimmen für das Amt des Premierministers. Anschließend wird im Sejm die Nationalhymne gesungen, die Handvoll Diehards wer noch im Publikum ist, singt mit. Dann schauen die Leute entsetzt auf den Bildschirm: „Oooeeeh!“ Kaczyński greift unerwartet zum Mikrofon und nennt den neuen Premierminister Tusk einen „deutschen Agenten“.

Wenn es nach PiS geht, wird das nicht passieren. Und in den kommenden Monaten stehen die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und die Festigung der Beziehungen zur EU auf der Agenda. „Evolution, nicht Revolution“, so stellt sich Doktor Korol den Wandel vor. Tusk wird seine Pläne am Dienstag vorstellen. Präsident Duda könnte am Mittwoch die neue Regierung vereidigen. Wer es im Kino sehen möchte, hat Glück: Aufgrund des großen Erfolgs zeigt Kinoteka die Sessions noch bis zum 10. Januar.



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