Im angespannten Arbeitsmarkt wechseln viele den Job: „Ich verdiene jetzt mehr in kürzerer Zeit“

Im angespannten Arbeitsmarkt wechseln viele den Job „Ich verdiene jetzt


Neben dem Streik haben Arbeitnehmer auf dem angespannten Arbeitsmarkt noch eine weitere Möglichkeit, bessere Bedingungen durchzusetzen: den Arbeitsplatz zu wechseln. Eine Rekordzahl von 1,5 Millionen Arbeitnehmern tat dies im vergangenen Jahr. „Sie wissen jetzt: Es gibt etwas zu holen.“

Maria von Ruiter

Nach Essenswettbewerben, Black Friday und Gender-Enthüllungspartys ist es das neueste Phänomen, das aus Amerika herüberweht: „The Great Resignation“. Der Exodus unzufriedener Arbeitnehmer, der in den USA nach der Pandemie stattfand, hätte laut der Leistungsagentur UWV im vergangenen Jahr auch in den Niederlanden stattgefunden. Allerdings, wie so oft, viel später und weniger großartig als in Amerika. Wo dort 47,4 Millionen Arbeitnehmer ihre Kündigung einreichten, wurden hier im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Arbeitsplätze verändert.

Im dritten Quartal 2022 hatten mehr als 5 Prozent der Beschäftigten einen anderen Arbeitgeber als im Vorquartal. „Ein Rekord“, sagt Arbeitsmarktexperte Michel van Smoorenburg vom UWV. Das ist ein Viertel mehr als vor Ausbruch der Pandemie. „Auffallend ist auch, dass zwei Drittel der Profis in eine ganz andere Berufsklasse gewechselt sind“, sagt er. „Das sind wirklich große Veränderungen.“ Menschen mit einem sprachlichen oder kreativen Beruf wechselten am häufigsten in eine andere Branche, jene in Pflege und Fürsorge am wenigsten.

Laut Van Smoorenburg ist der Mangel auf dem Arbeitsmarkt der Hauptgrund für Musiksessel. Historisch gesehen bleiben arbeitende Menschen in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs eher an ihrem Platz, während es in Zeiten des Wirtschaftsbooms mehr Menschen wagen, von einem Arbeitsplatz zum nächsten zu wechseln. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie arbeitslos werden, wenn bei einem neuen Arbeitgeber etwas schief geht. In der Blütezeit vor der Kreditkrise und vor der Pandemie wechselten zudem relativ viele Arbeitnehmer den Job.

Auch die Inflation ist ein Treiber

Knappheit bietet Arbeitnehmern Wahlmöglichkeiten, sagt Arbeitsmarktprofessor Ton Wilthagen. Der Arbeitnehmer hat die Wahl des Arbeitgebers, nicht umgekehrt. Zudem spielte im vergangenen Jahr eine weitere wirtschaftliche Entwicklung eine Rolle: die Inflation. Wo es den Gewerkschaften nicht gelang, die Kaufkraft durch tarifliche Lohnerhöhungen wiederherzustellen, erwies sich der Wechsel als wirksames Mittel, um das jahrelang rückständige Gehalt wieder anzukurbeln. „Letztes Jahr wurden viele Arbeiter von den teuren Lebensmitteln wachgerüttelt“, sagt Wilthagen. „Und wo sie vorher dachten, es geht doch nichts, wissen sie jetzt: Auf diesem angespannten Arbeitsmarkt gibt es etwas zu holen.“

Das Homeoffice während der Corona-Krise, in dessen Folge die Arbeit von Status- und Systemobergrenzen befreit wurde, hat laut Wilthagen dazu geführt, dass Beschäftigte kritischer mit den Inhalten ihrer Arbeit konfrontiert werden. Und den Arbeitsaufwand nicht vergessen. Viele Branchen befinden sich in einem Teufelskreis: Aufgrund des Mangels ist die Arbeitsbelastung höher, was bedeutet, dass die Fehlzeiten zunehmen und die Arbeitsbelastung noch höher ist.‘ Der Rücktritt könnte somit als neuer Streik angesehen werden. Anstatt die Arbeit für einen höheren Lohn oder ein geringeres Arbeitspensum aufzugeben, kehren die Arbeiter den Rücken und versuchen ihr Glück woanders.

Auch der Rekordzuwachs bei der Zahl der Selbstständigen ist in diesem Licht zu sehen. Mindestens 60.000 Beschäftigte haben im vergangenen Jahr ihre Chefs durch sich selbst ersetzt, insbesondere in Sektoren mit Engpässen wie dem Gesundheitswesen. Damit steigt die Zahl der Selbständigen ohne Angestellte auf 1,2 Millionen. Das sind 13 Prozent aller Berufstätigen. „Selbstständig zu sein ist die ultimative Form der Marktkräfte“, sagt Wilthagen. „Auf dem angespannten Arbeitsmarkt schöpfen Selbständige die Arbeit mit ihren eigenen Tarifen und Beschäftigungsbedingungen ab.“

Vor allem Flexworker wechseln

All das muss übrigens relativiert werden: Es waren im vergangenen Jahr vor allem die Flexarbeiter, die mit den Füßen abgestimmt haben. Im dritten Quartal 2022 wechselten 10,4 Prozent von ihnen den Job gegenüber 2,8 Prozent der Mitarbeiter mit einem unbefristeten Vertrag. Es überrascht nicht, dass für Flex-Arbeiter weniger auf dem Spiel steht: Sie wechselten sowieso schon von Flex-Vertrag zu Flex-Vertrag. Auch Festangestellte verabschieden sich mit ihrem Vertrag auf unbestimmte Zeit von all ihren Gewissheiten.

Der angespannte Arbeitsmarkt habe daran nichts geändert, sagt Van Smoorenburg. Arbeitgeber bieten ihren Arbeitnehmern immer noch einen befristeten Vertrag nach dem anderen an, bevor sie eine Festanstellung bekommen. Nur 10 Prozent der Jobwechsler mit einem flexiblen Arbeitsverhältnis schafften es, im Folgequartal eine Festanstellung zu bekommen. Das waren 70 Prozent der Jobwechsler mit einem unbefristeten Vertrag. „Wir sehen, dass es immer noch wenig Engagement und Interesse seitens der Arbeitgeber gibt“, sagt Van Smoorenburg. „Und das ist schade, denn es bedeutet, dass der Mitarbeiter möglicherweise früher die Stelle wechselt und Sie wieder von vorne anfangen können, Mitarbeiter zu schulen.“

Wilthagen meint auch, dass Arbeitgeber mehr in ihre bestehende Belegschaft investieren könnten. Anstatt mit Empfehlungsboni um sich zu werfen, sollten sie vielleicht einen Aufenthaltsbonus in Betracht ziehen. Damit der teure Klempner nicht für 100 Euro mehr zur Konkurrenz übergeht. „Viele Mitarbeiter haben jetzt das Gefühl, das Telekom-Kunden immer haben: Wenn Sie ein neues Abonnement wünschen, erhalten Sie alle möglichen Vorteile, aber wenn Sie jahrelang Mitglied sind, kümmert es niemanden.“

Wie schlimm ist dieses ganze Job-Hopping?

All diese Versetzungen auf dem Arbeitsmarkt scheinen sehr unglücklich zu sein, jetzt, wo es um Arbeit geht. Um die ewige Parallele zum Fußball zu ziehen, muss sich ein Spieler, der neu in einer Mannschaft ist, daran gewöhnen, bevor er ein Tor erzielen kann. Laut einer Studie von Oxford Economics würde es etwa vier Monate dauern, bis ein Mitarbeiter, der innerhalb desselben Sektors wechselt, wieder Spitzenleistungen erbringt. Für jemanden, der aus einer anderen Branche kommt, kann dies bis zu acht Monate dauern. Ökonomisch gesehen seien diese Veränderungen aber gar nicht so schlecht, sagt Professor Wilthagen: „Man wechselt oft in Branchen oder Unternehmen, die besser bezahlen und das sind in der Regel produktivere Unternehmen. Und da oft die „fitten“ Mitarbeiter wechseln, werden diese Unternehmen noch produktiver. Die weniger produktiven Unternehmen brechen schließlich zusammen.‘

Martin DammBild Marcel van den Bergh / de Volkskrant

Maarten Dammen (37) kündigt Festanstellung als Chefdirigent: „Die Schichten wurden länger“

„Ich habe mit 22 bei der NS angefangen und nie wieder verlassen. Am meisten hat mir die Freiheit gefallen. Sie sind der Chef Ihres eigenen Zuges. Anfangs war ich auch sehr stolz auf die NS. Wenn ich Beschwerden über Verzögerungen bei Geburtstagsfeiern hörte, habe ich mich immer für das Unternehmen eingesetzt.

„Aber aufgrund des Personalmangels wurden die Dienstpläne angepasst und die Schichten wurden immer länger. Wenn ich bis viertel vor sieben eingeplant war, war ich manchmal erst um halb 12 fertig. Ich musste an zwei von drei Wochenenden arbeiten. Kurz vor dem Sommer dachte ich: Ich bin 37, wenn ich noch beruflich wechseln will, jetzt oder nie. Ich wollte nicht auf die Streiks warten, ich hatte wenig Vertrauen, dass es helfen würde, also fing ich an, mich zu bewerben. Ich konnte fast sofort bei der Rabobank anfangen zu arbeiten.

„Ich habe die Bank nach vier Monaten verlassen, weil der Job nicht wirklich zu mir passte. Seit Anfang dieses Jahres arbeite ich bei Kadaster in einem neuen Job. Leider wurde mir am Donnerstag gesagt, dass sie nicht mit mir weitermachen wollen. Das finde ich sehr schade. Ich bereue es nicht, die NS verlassen zu haben, aber anscheinend ist das Gras bei den Nachbarn nicht immer grüner. Ich habe ein paar Bewerbungen laufen. Zum Beispiel beim Finanzamt und bei der NS – als Verwaltungsassistentin.“

Stephanie van Hoek Bild Marcel van den Bergh / de Volkskrant

Stéphanie van HoekBild Marcel van den Bergh / de Volkskrant

Stephanie van Hoek (40) war Marketingkauffrau und macht jetzt nebenberuflich eine Lehrerausbildung: „Während der Pandemie habe ich gemerkt, wie unwichtig meine Arbeit war“

„Ich habe die Entscheidung getroffen, meinen Job innerhalb einer Woche zu kündigen. Es geschah während der Corona-Krise, als ich von zu Hause aus arbeitete. Nach dem x-ten Online-Meeting dachte ich: Was mache ich? Wie viele Stunden am Tag verbringe ich wirklich damit, etwas zu tun, das für jemanden einen Unterschied macht? Gleichzeitig habe ich das Video meines Kindes gesehen, das den Lehrer auf dem Laptop angerufen hat, und ich dachte: Das ist wertvoll.

„Der Einstieg in die Ausbildung gestaltete sich schwieriger als erwartet. In der Marketingwelt geht alles sehr schnell, hier ist alles viel zähflüssiger. Die Anerkennung meiner Diplome war ein Problem. Obwohl ich zwanzig Jahre Berufserfahrung hatte, wurde ich also wieder nur als Anfänger angesehen. Ich mache jetzt eine berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin: Einen Tag in der Woche gehe ich zur Schule, einen Tag mache ich ein Praktikum und arbeite auch noch als Lehrerassistentin.

„Es ist eine ziemliche Investition. Ich werde nur für zwei Tage bezahlt. Hätte ich eine andere Wohnsituation gehabt, ohne einen Verdienstpartner, hätte ich das nie gekonnt. Ich finde das schade für eine Branche, die so viele Menschen braucht. Aber für mich ist es das mehr als wert. Ich bekomme viel Energie aus dem, was ich jetzt tue, und mache mir keine Sorgen, dass ich die nächsten 20 Jahre arbeitslos sein werde.“

Sylvia van der West Bild Marcel van den Bergh / de Volkskrant

Sylvia van der WestenBild Marcel van den Bergh / de Volkskrant

Sylvia van der West (49) war Politikberaterin bei der Gemeinde und macht das jetzt als Selbständige: „Ich wollte mehr Kontrolle über meine Arbeitswoche“

„Als letztes Jahr meine beiden ältesten Kinder weggeflogen sind und ich auf die 50 zuging, habe ich mich gefragt: Wie stelle ich mir die nächste Phase meines Berufslebens vor? Die Wahl fiel auf die Freiberuflichkeit. Ich wollte mehr Kontrolle über meine eigene Arbeitswoche. Mich mit meinen Lieblingsfächern beschäftigen und nicht an 25 Urlaubstage im Jahr gebunden sein.

„Natürlich hat der Arbeitsmarkt bei der Auswahl eine Rolle gespielt. Meine Expertise ist derzeit sehr gefragt. Deshalb weiß ich auch: Wenn es mit dem Freelancing nicht klappt und es wenige Aufträge gibt, kann ich mich immer noch auf eine Festanstellung bewerben. Darüber hinaus kann ich dank der Arbeit von zu Hause aus, die während der Korona in vielen Kommunen alltäglich geworden ist, jetzt Kunden in den gesamten Niederlanden bedienen.

„Viele Leute denken, dass ich Freiberufler geworden bin, weil es gut bezahlt wird. Aber es geht nicht darum, dass ich mehr verdienen will, sondern darum, effizienter zu verdienen. Ich bekomme jetzt das gleiche in kürzerer Zeit als angestellt. Das spart mir noch mehr Zeit. Damit kann ich zum Beispiel in mein geliebtes Paris reisen, einen Kochkurs besuchen oder meine Eltern in Zukunft informell betreuen.“



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