Kurz vor dem Krieg war er auf dem Spielplatz gestürzt. Er bekam in einem Krankenhaus einen starken Verband um sein gebrochenes Schlüsselbein. Das war im Luftschutzkeller und während der sechstägigen Busfahrt zwischen Charkiw und Amsterdam sehr schmutzig geworden. Kurz vor dem Krieg arbeitete seine Mutter als Fachärztin im selben Krankenhaus wie die Ärzte, selbst wenn die Bomben fallen. Stolz zeigt sie mir ihr Arztzeugnis. Ihr Kind, eine Tüte Kleider, ihr Stolz und dieses Diplom sind alles, was sie mitnehmen konnte. Ich schneide seinen Verband ab und tätschele seinen Kopf. Verdrängt, neu anfangen. Er wird bald zur Schule gehen. Die Niederlande scheinen eine Zeit lang ein warmes Bad für Flüchtlinge zu sein, aber wird das langfristig so bleiben?
Am Ende der abendlichen Sprechstunde sehe ich einen sehr dicken Jungen aus einem anderen osteuropäischen Land. Kein Krieg, aber auch schlechte Lebensbedingungen. Er ist jetzt seit ein paar Monaten in den Niederlanden. Einen Arzt hat er noch nicht gesehen. Er hat Diabetes und nimmt Tabletten. Die sind schon eine Weile draußen. Als Oma mir erzählt, dass er gerade einen Liter Eis gegessen hat und anfängt zu schreien, wenn er nichts zu essen bekommt, vermute ich, dass er eine genetische Anomalie hat, die ihn dazu bringt, zu viel zu essen. Soweit ich das beurteilen kann, wurde dies noch nie untersucht. Wer wird ihn unversichert lebenslang führen, wenn er tatsächlich einen schwerwiegenden Fehler in seinen Genen hat?
Wenige Tage später, andere Praxis. Ein 14-Jähriger aus einer Familie mit Fluchterfahrung ist seit einem Jahr nicht mehr zur Schule gegangen. Ihre Zwangsstörung ist wie ein Geschirr, aus dem sie nicht herauskommt. Nach vorheriger Behandlung in der Allgemeinpraxis stand sie acht Wochen lang auf der Warteliste für psychiatrische Versorgung. Diese Institution hielt ihr Problem für zu komplex. Weiter zur „Fachärztin für Psychiatrie“, die ihr Problem nach weiteren acht Wochen nicht komplex genug fand. Der GGZ-Praxisschwester der Allgemeinpraxis wurde geraten, ein Buch mit Tipps zu lesen und das Kind anderweitig zu überweisen. Sechzehn Wochen nach der ersten Überweisung sitzt ein verzweifeltes und verstörtes Kind in der Arztpraxis. Den Rückstand im Vergleich zu ihren Mitschülern wird sie vielleicht nie mehr aufholen: psychische Gebrechlichkeit, schlechtere Bildung, später weniger Einkommen und früherer Tod.
Ein lebhafter Siebtklässler mit fröhlichen rosa Haaren klagt über Bauchschmerzen. Sie macht sich schon Sorgen um die „High School“. „Dann muss ich neue Freunde finden und das finde ich schwierig.“ Jetzt hat sie genug Freunde, ihre Eltern sind geschieden, aber es gibt keinen Streit. Sie scheinen wie normale Sorgen des Erwachsenwerdens, die von selbst vergehen. Wir reden ein bisschen, sie versteht. Wenn sich ihre Symptome verschlimmern, gibt es bestimmt Hilfe.
Vier Kinder, vier (un)gewöhnliche Familien, vier unterschiedliche Vergangenheiten, vier unterschiedliche Zukunftsperspektiven. Der mit dem am wenigsten geladenen Hintergrund kommt am weitesten. Ohne Krieg, psychische Störung, Fluchtgeschichte oder genetische Anomalie ist die Versorgung recht gut organisiert. Erwachsene müssen sich auch besser um die anderen drei kümmern.
Joost Zaat ist Allgemeinmediziner