„Hybride Identitäten“: Warum Deutschland seine Staatsbürgerschaftsregeln aktualisiert

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Esad Sahin lebt seit 10 Jahren in Deutschland, ist aber immer noch kein deutscher Staatsbürger. Der Grund: ein striktes Doppelstaatsverbot, das ihn zur Herausgabe seines türkischen Passes verpflichtet hätte.

Das war für ihn nie eine Option. „Das ist Teil meiner Identität“, sagte er. „Ich wollte Teil der deutschen Gesellschaft werden, aber nicht um den Preis meiner türkischen Staatsbürgerschaft.“

Bald wird er sich einem solchen Dilemma nicht mehr stellen müssen. Der Deutsche Bundestag steht kurz vor der Verabschiedung eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes, das Ausländern den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft deutlich erleichtern wird. Es gilt als kleine Revolution im Umgang des Landes mit Menschen mit Migrationshintergrund. Es steht auch in krassem Gegensatz zu dem Trend in den Nachbarländern, die Einbürgerungskriterien zu verschärfen statt zu lockern.

Der Gesetzentwurf sieht vor, die Staatsbürgerschaft bereits nach fünf statt bisher acht Jahren Aufenthalt in Deutschland zu beantragen. Weiter heißt es: „Wer sich besonders um die Integration bemüht hat – etwa durch gute Deutschkenntnisse, ehrenamtliches Engagement oder gute schulische Leistungen – kann sich nach drei Jahren bewerben.“

Aber für die Befürworter des Gesetzentwurfs ist das wichtigste Merkmal die Aufhebung des Verbots der doppelten Staatsbürgerschaft für Menschen aus Nicht-EU-Ländern. „Viele Menschen in diesem Land haben hybride Identitäten und unser Gesetz muss das widerspiegeln“, sagte Lamya Kaddor, Innensprecherin der Grünen und selbst Kind syrischer Einwanderer. „Die Vorstellung, dass man nur eine Heimat hat, ist völlig überholt.“

Esad Sahin: „Ich wollte Teil der deutschen Gesellschaft werden, aber nicht um den Preis meiner türkischen Staatsbürgerschaft“ © Olga Weber

Das Gesetz könnte nach seiner Verabschiedung enorme Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft haben. In Deutschland leben etwa 10 Millionen Menschen ohne deutschen Pass – rund 12 Prozent der Bevölkerung. Etwa 5,7 Millionen von ihnen leben seit mindestens 10 Jahren im Land.

„Demokratietheoretisch ist es eindeutig ein Problem, wenn so viele Menschen, die schon so lange hier leben, nicht wählen können und bei Gesetzen, die sie betreffen, nichts mitzureden haben“, sagt Niklas Harder vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).

Die Forschung habe auch die positiven Vorteile einer beschleunigten Einbürgerung gezeigt, sagte er. Die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt verbessert sich und Kinder, insbesondere Jungen, schneiden in der Schule besser ab.

„Es gibt gute Studien aus der Schweiz, die zeigen, wie die Einbürgerung zu höheren Einkommen, höheren Renten, mehr Engagement in Vereinen und Verbänden – kurz gesagt zu mehr sozialem Zusammenhalt führt“, sagte Harder.

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Das Einbürgerungsgesetz ist Teil einer Reihe von Reformen, die die Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen versprochen hat, um die deutsche Gesellschaft nach 16 Jahren Herrschaft von Angela Merkels konservativen Christdemokraten (CDU) zu modernisieren.

Der im November 2021 ausgehandelte Koalitionsvertrag sieht außerdem vor, Cannabis zu legalisieren, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken und die Erklärung einer Geschlechtsumwandlung zu erleichtern.

Aber die Einwanderungsreform könnte die weitreichendste sein. Es verspricht die größte Umwälzung der deutschen Staatsangehörigkeitsregeln seit dem Jahr 2000 zu werden, als ein neues Gesetz bedeutete, dass Kinder von Einwanderereltern zum ersten Mal automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.

Georg Maier, Mitte, Minister des Innern von Thüringen, mit neu eingebürgerten Bürgern beim Einbürgerungsfest im Kaisersaal
Georg Maier, Mitte, Innenminister Thüringens, mit neu Eingebürgerten beim Einbürgerungsfest im Kaisersaal © Martin Schutt/picture-alliance/dpa/AP Images

In der Präambel des Gesetzentwurfs heißt es, dass Deutschlands Einbürgerungsquote unter dem EU-Durchschnitt liegt. Er fügt aber hinzu, es sei „im gesamtgesellschaftlichen Interesse, dass sich möglichst viele Migranten, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, für die Einbürgerung entscheiden“.

Einer derjenigen, die die vorgeschlagene Änderung begrüßen, ist Jihene Dammak, eine Tunesierin, die vor fast acht Jahren nach Deutschland kam. Als gelernte Ingenieurin versuchte sie, ein eigenes Unternehmen zu gründen, das ausländische Studierende berät und betreute, doch ihre fehlende deutsche Staatsbürgerschaft erwies sich als große Hürde. „Ohne deutschen Pass ist es fast unmöglich, ein Unternehmen zu gründen, einen Kredit aufzunehmen und Stipendien zu beantragen“, sagte sie.

Das jetzige System ist für die in Deutschland händeringend gesuchten Fachkräfte höchst unattraktiv. „In den acht Jahren, die Sie hier leben müssen, um sich für die Staatsbürgerschaft zu qualifizieren, sind Sie immer unsicher – wenn Sie Ihren Job verlieren, sind Sie raus“, sagte sie. „Acht Jahre sind wirklich zu lang.“

Das Staatsbürgerschaftsgesetz wird mit einer Einwanderungsreform kombiniert, die auf Basis des kanadischen Punktesystems Fachkräften die Einreise nach Deutschland erleichtern soll. Bewerberinnen und Bewerber müssen künftig nicht mehr einen in Deutschland anerkannten Berufsabschluss, einschlägige Berufserfahrung und die Zusage einer Anstellung nachweisen.

Doch für die oppositionelle CDU ist die ganze Reform – insbesondere die beschleunigte Einbürgerung – verfehlt. „Fünf Jahre reichen nicht aus, um sich wirklich zu integrieren und zu entscheiden, ob jemand wirklich ein festes Mitglied unserer Gesellschaft werden soll“, sagte der innenpolitische Sprecher der CDU, Alexander Throm.

„Die deutsche Staatsbürgerschaft ist für die Ewigkeit gegeben und kann nie entzogen werden, also muss man wirklich schauen, bevor man springt“, sagte er. „Acht Jahre sind durchaus angemessen, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert die Staatsbürgerschaft in Deutschland hat.“

Andrea Lindholz, Abgeordnete der Christlich Sozialen Union, der bayerischen Schwesterpartei der CDU, sagte, die Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit würde zu „Loyalitätskonflikten“ und „einer Schwächung des sozialen Zusammenhalts“ in Deutschland führen.

Die rechtsextreme Alternative für Deutschland ist in ihrer Kritik noch weiter gegangen. Die Regierung schlage „Menschen, die sich nicht ausreichend integriert haben, deutsche Pässe spottbillig weg“, sagte der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio in einer Bundestagsdebatte zu diesem Thema.

Das größte Hindernis für die neue Reform sind jedoch nicht die Ansichten von CDU und AfD, sondern die deutsche Bürokratie. Einem aktuellen Bericht der Zeitung „Die Welt“ zufolge hatten die Kommunalbehörden in einigen der größten deutschen Städte Schwierigkeiten, mit einem enormen Rückstand an Anträgen auf Staatsbürgerschaft fertig zu werden. Allein in Berlin seien noch 26.000 Anträge anhängig – 10.000 davon aus dem Jahr 2021. Gewerkschaften beklagen ein eklatanter Mangel an qualifiziertem Personal, um die Anfragen zu bearbeiten.

Beamte warnen jedoch davor, dass die geplante Einwanderungsreform zu einem Anstieg der Anträge um 50 bis 100 Prozent führen könnte, was wiederum die Wartezeiten erheblich verlängern wird.

„Wir hören von Einbürgerungsverfahren, die zwei Jahre und länger dauern“, sagte Harder. „Die Ausländerbehörden sind völlig überfordert. Und wenn sie nicht dringend mehr Personal bekommen, stehen wir vor einem administrativen Chaos.“



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