Herzzerreißende Szenen in Rotterdam: „Auch wenn sie uns nur einen Finger oder einen Fuß zeigen“

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In den letzten Tagen kletterten Angehörige auf eigene Faust durch die Trümmer der explodierten Wohnung in Rotterdam, um die Leichen von Familienmitgliedern zu bergen. Am Mittwochabend musste die Bereitschaftspolizei eingeschaltet werden. Am Donnerstag können die Einsatzkräfte endlich selbst an die Arbeit gehen.

Iva Venneman Und Mark Miserus

Die Frau mit dem lila Kopftuch kneift die Augen zusammen. Auf den Zehenspitzen blickt sie direkt in die Wintersonne, nur um einen Blick auf das Geschehen hinter der von der Polizei aufgestellten Abschirmung zu erhaschen. „Da liegt meine Cousine“, sagt die 30-Jährige und zeigt auf die Trümmer, die bis Montagabend noch ein Rotterdamer Apartmentkomplex waren.

Die Augen der Frau sind rot, ihre Wimpern feucht. Der 22-jährige Ilyas, ihr Cousin, der nach Angaben der Frau hier Urlaub machte, ist einer der beiden Vermissten, die am Donnerstagnachmittag noch unter den Trümmern lagen. Per Videoanruf hält die Frau, die nicht möchte, dass ihr Name in der Zeitung steht, ihre unmittelbare Familie in Spanien über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden.

Über den Autor
Iva Venneman ist Generalreporterin für de Volkskrant. Mark Misérus ist Bildungsreporter.

Die Familie habe zuvor Hoffnung gehabt, sagt sie. Am Mittwoch betraten Angehörige einer weiteren vermissten Person, des 43-jährigen Kamran Khan, aus Frust das Gelände des explodierten Apartmentkomplexes. Dort erkannten sie ihn an seinen Hosen und Schuhen. Augenblicke später trug die Familie selbst Khans Leiche vom Katastrophenort weg.

„Aber jetzt wird es nur noch schlimmer“, sagt Ilyas‘ Nichte und verweist auf die Grabarbeiten, die seinem Körper schaden könnten. „Selbst wenn sie uns nur einen Finger oder einen Fuß geben.“ Etwas, um ihn zu begraben.‘

„Monster-Dilemma“

Für die muslimischen Familien der drei Opfer herrscht Eile, denn nach ihrem Glauben muss der Verstorbene so schnell wie möglich beerdigt werden. Doch bis Donnerstagnachmittag blieb die Polizei standhaft: Niemand durfte das Gelände betreten, die Einsturzgefahr sei zu groß. Die Pfeiler in der Mitte des Gebäudes – bestehend aus einer Garagenreihe mit zwei Stockwerken – waren durch die Explosion weggesprengt worden oder drohten zu brechen.

Es kam in den letzten Tagen zu herzzerreißenden Szenen am Zaun, bei denen emotionale Familienmitglieder der Polizei vorwarfen, viel zu langsam zu arbeiten. Am Mittwochabend musste sogar die Bereitschaftspolizei eingreifen, als Angehörige Zäune niederrissen und die Stimmung sich änderte. Suat Erdemsoy sah, wie die Emotionen hochkochten. Als spiritueller Berater bei der Platform Islamic Organizations Rijnmond Foundation (SPION) betreut er die Hinterbliebenen. „Ich muss sagen: Die Polizei hat wirklich viel Geduld bewiesen.“

Was ist in einer solchen Situation das Richtige? Ein „Monster-Dilemma“, nennt es ein Sprecher der Rotterdamer Polizei. Bei einem normalen Brand ist es ganz klar: Die Feuerwehr greift fast immer dann ein, wenn ein Verdacht auf Opfer besteht. „Manchmal gehen wir an die Grenze oder knapp darüber.“ Denn die Rettung von Menschen liegt in unserer DNA“, sagt ein Sprecher der Sicherheitsregion Rotterdam-Rijnmond.

Der Unterschied zu der Explosion und dem Brand im Süden Rotterdams besteht darin, dass es keine ernsthafte Chance gab, Menschen zu retten, sagt Ira Helsloot, Professor für Sicherheitsmanagement an der Radboud-Universität Nijmegen. „Das Feuer wurde so schnell so heftig und so groß.“ Die Polizei ermittelt zur Ursache der Explosion.

„Ihre eigene Sicherheit geht vor“

Nachdem das Feuer gelöscht war, schwand schnell jede Hoffnung, dass es noch lebende Opfer geben würde. Ein Bagger zieht am Donnerstag den glimmenden Beton und Splitt Block für Block beiseite. Achten Sie darauf, die beiden fehlenden Leichen nicht zu beschädigen. Manchmal kniet ein Mitarbeiter des Forensic Fire Investigation Service nieder, um mit den Händen weiter zu graben.

Arbeiten am Donnerstag am Ort der Explosion in einem Gebäude am Schammenkamp in Zuidwijk in Rotterdam.Bild Jeffrey Groeneweg / ANP

Helsloot: „Es ist schrecklich für die Familie.“ Aber dass es aufgrund der Einsturzgefahr ein bis zwei Tage länger dauert, bis die Opfer gefunden werden, ist eine richtige Entscheidung von Feuerwehr und Polizei.“ Der Sprecher der Sicherheitsregion: „Unsere eigene Sicherheit geht vor.“ „Wir gehen mit sechs Mann raus, möchten aber auch gerne mit sechs Mann zur Feuerwache zurückkehren.“

Ausschlaggebend für die Entscheidung ist die mögliche Einsturzgefahr. Feuerwehr und Polizei werden hierbei unter anderem von Unternehmern und Bauherren der Gemeinde beraten. Helsloot: „Es geht darum, ob ein Gebäude so stark beschädigt wurde, dass man es noch sicher betreten kann.“ Selbst der Planer kann im Voraus nicht abschätzen, wie sein Gebäude einem Brandanstieg auf 300 Grad standhalten wird. Und der Experte wird immer auf Nummer sicher gehen, wenn es um das Risiko eines Einsturzes geht.‘

Dass die Polizei den Angehörigen von Kamran Khan dennoch erlaubte, den 43-jährigen Vater und Unternehmer vom Gelände zu tragen, sei eine Ausnahmesituation gewesen, so der Polizeisprecher. Da die Angehörigen sagten, sie wüssten genau, wo Khan sei, konnten sie die Stätte kurz betreten. „Wir haben es ermöglicht, aber mit allen Gefahren, die das mit sich bringt.“

Nachtarbeit

Helsloot hält es für eine „komplizierte Angelegenheit“, dass die Polizei dies getan hat. „Ich weiß nicht wirklich, was ich davon halten soll, auch weil ich mich an kein früheres Beispiel erinnern kann.“ „Die Frage, die wir uns als Polizei immer stellen, ist: Wurde es gut gemacht oder ist es gut gelaufen?“ „Das hat gut geklappt“, sagte der Polizeisprecher. „Aber nicht ohne Grund haben wir zunächst Durchsuchungen durch Angehörige verboten.“

Später stoppte die Polizei die Angehörigen der beiden anderen Opfer, als diese eine Durchsuchung durchführen wollten. „Der Ort und die Umstände, an denen die anderen Opfer liegen, haben keinen Unterschied gemacht – und doch haben sie es getan.“ „Wir sind einfach nicht hundertprozentig sicher, wo sie sind“, sagte der Sprecher.

Dies ist wahrscheinlich irgendwo in den mittleren vier Häusern über den Garagen – ein Ort, der viel schwieriger zu erreichen ist. An drei Orten kam es zu Angriffen auf Spürhunde, die Gerüche könnten aber auch leicht durch Wind und Feuer verbreitet worden sein. Bis zum frühen Donnerstagabend hatte die Suche noch keine Ergebnisse erbracht. Doch Rettungskräfte vor Ort sagten, sie würden bei Bedarf die ganze Nacht weitersuchen.



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