Was genau verdächtigt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Putin?
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurden Tausende Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland deportiert. Einige von ihnen wurden von russischen Familien adoptiert, andere sind nie aus sogenannten „Sommerlagern“ zurückgekehrt und einige der Kinder wurden in Umerziehungslager geschickt.
Nach ukrainischen Schätzungen betrifft dies mehr als 16.000 Kinder. Eine Yale-Studie legt nahe, dass die mindestens 6.000 Kinder, aber die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich höher. Ziel der Abschiebungen sei es, Kindern ihre ukrainische Identität zu nehmen, heißt es in der Ukraine.
Über den Autor
Joram Bolle ist Generalberichterstatter von de Volkskrant.
Rechtswidrige Abschiebungen aus besetzten Gebieten sind nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen. Ein Untersuchungsausschuss des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen kam diese Woche zu dem Schluss, dass sich Russland neben anderen Kriegsverbrechen tatsächlich schuldig gemacht hat. Diese Untersuchung ist unabhängig vom Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs, kann aber vor Gericht als Beweismittel verwendet werden.
Nach der Völkermordkonvention von 1948 kann auch die zwangsweise Verbringung von Kindern in eine andere Bevölkerungsgruppe ein Völkermord sein, wenn die Absicht besteht, eine Bevölkerungsgruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Darüber spricht der ICC jetzt nicht.
Die Staatsanwaltschaft des IStGH macht Präsident Wladimir Putin persönlich für die Abschiebungen verantwortlich. Möglicherweise habe er es angeordnet, sagt der Staatsanwalt, oder nicht eingegriffen, obwohl er davon gewusst habe. Russland verheimlicht die Abschiebungen nicht, sagt aber, es führe sie aus humanitären Gründen durch, um Waisenkindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Neben Putin wurde auch Haftbefehl gegen die russische Kinderombudsfrau Maria Lvova-Belova erlassen, die die Abschiebungen leiten soll.
Russland ist kein Mitglied des IStGH. Kann sie Putin dann strafrechtlich verfolgen?
Der Internationale Strafgerichtshof hat 123 Mitglieder, Russland gehört nicht dazu. Auch die Ukraine ist kein Mitglied, hat aber dem IStGH mit Sitz in Den Haag die Erlaubnis erteilt, auf ukrainischem Boden begangene Kriegsverbrechen zu verfolgen. Die Vereinigten Staaten, ebenfalls kein Mitglied, haben die Entscheidung begrüßt, einen Haftbefehl gegen Putin zu erlassen.
Russland lachte am Freitag über den Haftbefehl und sagte, es erkenne den IStGH nicht an. Die Tatsache, dass ein Land kein Mitglied ist, macht es jedoch nicht unmöglich, jemanden aus einem solchen Land strafrechtlich zu verfolgen. Allerdings ist es schwieriger: Der IStGH führt nur Strafsachen durch, in denen der Verdächtige anwesend ist. Russland liefert überhaupt keine Russen aus, geschweige denn an den IStGH und geschweige denn den Präsidenten.
Normalerweise sind Staatsoberhäupter vor strafrechtlicher Verfolgung gefeit. Für den IStGH erlischt diese Immunität jedoch im Falle einer Anklage wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Theoretisch kann das Strafgericht Putin also verfolgen und bestrafen. In der Praxis ist die Chance gleich null, solange er an der Macht ist.
Welche Folgen hat das für Putin?
Der Haftbefehl hat einen hohen symbolischen Wert. Außerdem schränkt es Putins Bewegungsfreiheit ein. Sollte er den Boden eines Landes betreten, das Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs ist, wäre dieses Land verpflichtet, ihn zu verhaften. Damit haben seit Freitag 123 Länder eine No-Go-Zone für Putin gebildet.
Ob das Putin sehr einschränkt, ist die Frage. Wenn er überhaupt ins Ausland reist, dann meist zu Verbündeten, die den IStGH ebenfalls nicht anerkennen, wie China und Iran.
Zudem ist fraglich, ob alle 123 IStGH-Staaten es wagen würden, Putin aus Angst vor den Konsequenzen zu verhaften. So hatten sich Jordanien und fünf afrikanische Länder, darunter Südafrika, zuvor geweigert, den sudanesischen Diktator Omar al-Bashir bei seinem Besuch trotz Haftbefehl festzunehmen. Einige Jahre später wurde Al-Bashir ausgeliefert, allerdings vom Sudan selbst, nachdem er durch einen Staatsstreich abgesetzt worden war.
Sollte Putin jemals auf die eine oder andere Weise die Macht in Russland verlieren, könnte eine neue Regierung entscheiden, ihn auszuliefern. So auch der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević, der vom serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjić an das Jugoslawien-Tribunal ausgeliefert wurde.
Muss Putin weitere Anklagen befürchten?
Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Putin wegen weiterer Kriegsverbrechen angeklagt wird. Zum Beispiel hat der IStGH auch einen Fall wegen Angriffs auf zivile Infrastruktur in der Ukraine, wie etwa Kraftwerke, eingeleitet. Objekte ohne militärische Anwendung sind nach internationalem Recht kein legitimes Ziel.
Putin könnte auch mit einem Fall konfrontiert sein, in dem es darum geht, den Krieg gegen die Ukraine zu beginnen und zu führen: das übergreifende Verbrechen. Putin würde dann wegen eines sogenannten Aggressionsverbrechens, auch Verbrechen gegen den Frieden genannt, angeklagt.
Für dieses Verbrechen kann der IStGH nur Personen aus Ländern verfolgen, die den IStGH anerkennen. Aus diesem Grund wird international gefordert, ein Sondertribunal einzurichten, das Putin und andere politische und militärische Führer Russlands wegen dieses Verbrechens strafrechtlich verfolgen kann. Die EU hat nun ein Zentrum zur Sammlung von Beweisen eingerichtet. Dies könnte sich als nützlich erweisen, wenn ein solches Aggressionstribunal eingerichtet wurde.