Die niederländische Haltung gegenüber der Weltmeisterschaft in Katar ist wieder einmal von beispiellosem Sabbern geprägt, sowohl vom KNVB als auch vom Kabinett.
Die Nationalmannschaft des Iran hat es zur Unterstützung des Aufstands gegen das eigene tyrannische Ayatollah-Regime gewagt, trotz aller bedrohlichen Auswirkungen im eigenen Land erstmals während der eigenen Nationalhymne zu schweigen. Als klares Statement zur Fifa-Erpressung trugen die angereisten Sportminister aus Deutschland und Belgien offen das OneLove-Armband, ohne dass beide danach in einem Katar-Verlies verschwanden. Die deutsche Fußballmannschaft posierte nach dem Verbot, das Band zu tragen, demonstrativ mit der Hand vor dem Mund für ein Foto.
Und die niederländische Nationalmannschaft? Das hat es schon im Vorfeld in die Hose gemacht. „Wir wollen gewinnen“, darauf kam es an, und Sport und Politik hatten eigentlich nichts miteinander zu tun. Louis van Gaal, nicht der einzige Sportheld, der hierzulande weit über das Pferd gegangen ist, machte schnell klar, dass es jetzt vorbei sein müsse und er kein Gezeter mehr wolle: Ab jetzt seien wir nur noch für die da Sport.
Und das niederländische Kabinett? Ministerpräsident Rutte hatte bereits vor Monaten mit seinen – selbst für ihn äußerst dummen – Kommentaren zu den tausenden toten Bauarbeitern den Ton für die Zukunft vorgegeben: Wir jubeln dem Team zu, nicht den Tribünen.
Stift
Sportministerin Conny Helder entschied sich daher für einen sehr kleinen Pin. „So eine Anstecknadel ist ein bisschen schicker als so ein Band“, sagt die Leiterin des Profifußballs Marianne van Leeuwen. Das fühlte sich nicht nur angenehmer für den KNVB an, sondern auch angenehmer für den Minister selbst, dass diese Anstecknadel nicht so sichtbar war, sonst wäre es so provokativ, und der liebe Emir könnte sich darüber ärgern. Er muss sich mit einer unverschleierten Frau neben ihm auf diesen verdammten Tribünen unwohl gefühlt haben, dass Rutte nicht mit lautem Jubel rechnen konnte.
Helder hat mit ihrer ach so schicken Anstecknadel eine zusätzliche Schlammfigur gemacht, weil der Justizminister von Katar demonstrativ ein Tonband aufgelegt hatte, mit dem er seine Unterstützung für die palästinensische Sache zum Ausdruck brachte. Nun gibt es in der Tat viel über westliche (und sicherlich niederländische) Heuchelei und Doppelmoral zu sagen, wo illegale israelische Landnahmen systematisch ignoriert werden – Putin hat so etwas nicht ganz neu erfunden. Nicht dass die Katarischer Minister kümmert sich überhaupt um das Schicksal gewöhnlicher Palästinenser; das ist, wie bei all seinen wohlhabenden Amtskollegen in den Golfstaaten, nur Rhetorik für die Tribünen.
Aber ich bin gespannt, wie jetzt Fifa-Mafia-Boss Infantino reagiert, der politische Aktivitäten bei der WM verboten hatte. Wird dem Emir nun der Zugang zu seiner eigenen Galerie verweigert? Oder wird Infantino bald wieder auf die Knie gehen, nachdem er bereits auf Druck Katars allerlei freiheitsbeschränkende Maßnahmen hingenommen oder selbst umgesetzt hatte?
Nach dem Gewinn des WM-Preises hat der Emir offensichtlich kein Interesse an früheren Vereinbarungen, die er als religiös-kulturell nicht akzeptable Zugeständnisse empfunden hatte. So konnte auch der Vorsitzende der Organisation der WM in Katar, Hassan al-Thawadi, in dieser Woche beiläufig zugeben, dass die Zahl der Bautoten nicht drei-, sondern hundertfach gestiegen sei. Wie muss sich Infantino, der alle Lügen mit Elan verteidigt hatte, jetzt fühlen? Aus Verzweiflung über seine eigene Unglaubwürdigkeit reißt er sich nun die Haare aus seiner Glatze.
Bauchrednerpuppe
Zuvor hatte Infantino gedacht, er sollte gegen westliche Menschenrechtsaktivisten schimpfen und dreitausend Jahre europäisches Fehlverhalten anführen. Putin, der in seiner Tirade gegen den „satanischen“ Westen kürzlich auch die westliche Sklaverei-Vergangenheit ausgeblendet hat, wird es mit Vergnügen zur Kenntnis genommen haben. Mit einer so willigen Bauchrednerpuppe im allmächtigen Weltfußballverband ist die Finanzierung all dieser narzisstischen Wappies um Thierry Baudet nicht mehr als antidemokratisches Gefummel am Rande.
Nun gibt es zweifellos etwas zu sagen über die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte in Europa und sicherlich auch in den Niederlanden, in Gewächshäusern und im Bauwesen. Etwa über ihre schlechten Wohnverhältnisse in deutschen Grenzgemeinden, mit denen geldgierige Arbeitgeber für hohe Gewinne und minimale Kosten einen Teil des Problems buchstäblich über die Nachbarhecke geschmissen haben.
Aber lass es gerade die eine rechte Partei sein, die das am wenigsten stört, die sich in Katar auch nicht beklagen will und die wirtschaftliche Eigeninteressen – ja, die der schicken Anstecknadeln und der unliebsamen Stände – in den Vordergrund stellt Die Kritiker der Missbräuche in Katar sind auch die ersten, die ähnliche Missbräuche in ihrem eigenen Land zur Sprache bringen.
Koloniales Kuli-System
In dieser Hinsicht gibt es eine weitere interessante Parallele. Die Befürworter des Nicht-Jammerns versuchen, die Kritiker zum Schweigen zu bringen, indem sie erklären, dass die Katarer selbst stolz auf die WM-Organisation sind. Ja, das werden sie: die Kataris selbst. Sie machen die wohlhabenden 10 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Katar ist ein dekadenter Sklavenstaat, der an das koloniale Kuli-System von Niederländisch-Ostindien erinnert: eine allmächtige Oberschicht auf ethnischer Apartheidbasis, wohlhabend und selbstgefällig, auf dem Rücken der anderen. Auch etwas, was rechte Kreise in den Niederlanden damals und auch nicht lange danach nicht als großes Problem sahen.
Thomas von der Dunk ist Kulturhistoriker.