Gut ausgebildete junge Russen fliehen massenhaft. ‚Ich habe schon ein Ticket, Mama‘

Gut ausgebildete junge Russen fliehen massenhaft Ich habe schon ein


Junge Russen überqueren die Grenze bei Verchni Lars, einem Grenzposten zwischen Russland und Georgien. Seit der Ankündigung der Mobilisierung durch Präsident Putin reihen sich Autos vor der Grenze aneinander, hauptsächlich Männer, die aus Russland raus wollen. Unter ihnen viele gut ausgebildete junge Männer.Statue Shakh Aivazov / AP

Valera kam vor zwei Stunden Hals über Kopf aus Moskau in Istanbul an. Jetzt, Samstagnachmittag 3 Uhr, sitzt er hinter einem Glas türkischem Tee im gemütlichen Innenhof des Kulturzentrums Nazim Hikmet, benannt nach dem berühmten kommunistischen türkischen Dichter, der 1963 nach dreizehn Jahren Exil in Russland in Moskau starb.

Und wie fühlt er sich? „Ziemlich gut“, sagt der 25-jährige Russe lakonisch. Er gähnt. ‚Ein wenig müde. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen.‘

Möglicherweise ist dieser Stoizismus erblich, denn als er seinen Eltern mitteilte, dass er auf dem Weg in die Türkei sei, um der Mobilisierung für die russische Armee zu entgehen, sagten sie: „Es ist deine Entscheidung. Viel Glück. Und Spaß haben.‘

Dabei sind die Umstände dramatisch genug. Die am Mittwoch von Präsident Wladimir Putin angekündigte Mobilisierung von 300.000 Mann für den Kampf in der Ukraine sorgt in Russland für große Unruhe. Viele denken nicht daran, ihr Leben in einem sinnlosen Krieg zu riskieren. Tausende junge Männer versuchen, das Land zu verlassen. Sie fliehen mit dem Auto über die Grenze nach Georgien, Finnland, Kasachstan, in die Mongolei. Oder mit dem Flugzeug in die Türkei, eines der wenigen Länder, das für Russen ohne Visum zugänglich ist.

Die Ticketpreise fliegen in die Höhe

Es ist nicht billig. Valera zahlte 1.500 Euro für sein Ticket. Das war nicht so schlimm, denn die Preise sind seit der Mobilmachung in die Höhe geschossen. Manchmal müssen Sie 30.000 Euro für ein einzelnes Ticket Moskau-Istanbul bezahlen.

Und das ist auch vielen Angehörigen der sogenannten „goldenen Schicht“ in Russland zu teuer. Alle vier gehören hierher, die Männer hier beim Tee in Nazim Hikmets Garten. Nicht weil sie reich sind, sondern weil es bei der „goldenen Schicht“ vor allem um soziales und kulturelles Kapital geht. Es sind Menschen, die eine gute Ausbildung erhalten haben, Englisch sprechen, in der IT arbeiten oder einen gefragten technischen Beruf haben.

Daraus resultiert oft ein gutes Gehalt, aber im Moment ist es viel wichtiger, dass es die Reise ins Ausland erleichtert. „Ich schätze, dass diese Woche 10 Prozent der Goldschicht das Land verlassen haben“, sagte der 46-jährige Arzt Reitor, der seit einem Jahr in Istanbul lebt. „In manchen Branchen vielleicht 50 Prozent. Das ist sehr schädlich für die Wirtschaft.“

Reitor selbst trägt zu dieser großen Welle bei, indem er einem befreundeten Paar aus der Ferne hilft, aus Russland zu fliehen. Er war die ganze Nacht mit ihnen in Kontakt, auch er schlief kaum, und „meine Frau hat die ganze Zeit geweint“. Die Route der beiden: Mit einem Inlandsflug für 1.500 Euro von St. Petersburg nach Omsk in Sibirien. Von dort mit dem Bus nach Petropavlovsk, kurz hinter der Grenze in Kasachstan.

„Sie haben dort nur ein paar Stunden auf einer Parkbank geschlafen“, sagt Reitor. Nun zieht das Paar – beide 35 Jahre alt, ebenfalls Goldschicht – weiter nach Astana und versucht, einen Flug nach Istanbul zu erwischen. Das dürfte deutlich günstiger sein als ab Moskau zu fliegen.

Flüge nach Istanbul sind fast nur voll mit Männern

Reitor zeigt Filme von den riesigen Autoschlangen auf ihrem Weg an die Außengrenzen Russlands, insbesondere Richtung Kasachstan, Mongolei, Georgien, die derzeit beliebteste (weil einfachste) Transitroute.

Eine große Rolle spielt dabei „Border Control“, eine Chat-Gruppe, die letzte Woche spontan von und für Russen gegründet wurde, die ihr Land verlassen wollen oder bereits verlassen haben. Als Reitor am Donnerstag beitrat, hatte die Gruppe 13.000 Mitglieder. „Und jetzt schau mal“, sagt er und zeigt auf sein Handy: 342.000.

Ebenfalls wichtig ist Kovchek (die Arche), eine Website, die nach der Invasion der Ukraine im Februar von der Menschenrechtsanwältin Anastasia Burakova mit Hilfe des Geschäftsmanns Michail Chodorkowski von London aus gestartet wurde. Kovchek hilft Russen, die ihr Land verlassen haben, weil sie gegen den Krieg in der Ukraine sind. Der Name bezieht sich auf die Arche Noah.

„Nur die Arche Noah hatte ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, ein Männchen und ein Weibchen für jede Art“, sagt der 23-jährige Ivan lachend. „Seit Mittwoch verlassen vor allem Männer Russland, weil sie Angst haben, in die Armee eingezogen zu werden. Mein Flug war voll, aber es waren nur drei Frauen im Flugzeug.“

Ivan selbst ist einer dieser Männer. Am Tag bevor Putin diese Woche seine Entscheidung verkündete, las er von einer Änderung des Mobilmachungsgesetzes. Er witterte Gefahr und beschloss sofort, ein Ticket nach Istanbul für 1.200 Euro zu kaufen. Nachdem Putin am Mittwoch seine Fernsehansprache gehalten hatte, rief ihn seine Mutter an. „Nimm so schnell wie möglich das Flugzeug in die Türkei!“, sagte sie zu ihrem Sohn. Ivan konnte sie beruhigen: „Ich habe schon ein Ticket, Mama.“

Er landete am Donnerstag in Istanbul. Dort wurde er von seinem Freund Dima (27) empfangen, der seit einem Monat in der Stadt ist und dort eine geräumige Wohnung mietet. Am Samstag gesellte sich Valera, ebenfalls eine Freundin aus Moskau, dazu.

Russische Männer kommen in Zvartnots an, dem Flughafen der armenischen Hauptstadt Jerewan.  Flüge von Russland nach Armenien waren diese Woche fast ausgebucht.  Statue Karen Minasyan / AFP

Russische Männer kommen in Zvartnots an, dem Flughafen der armenischen Hauptstadt Jerewan. Flüge von Russland nach Armenien waren diese Woche fast ausgebucht.Statue Karen Minasyan / AFP

Vielen jungen Männern ist ein Sprung ins Ausland zu ungewiss

Die jungen Männer arbeiten alle in der ICT, für Firmen in den USA oder Europa, sprechen gut Englisch und haben ein gutes Gehalt in Dollar oder Euro – alle Vorteile der goldenen Schicht. Viele ihrer Kollegen in Moskau wollen wie sie auf keinen Fall in der Ukraine kämpfen, aber der Sprung ins Ausland ist ihnen zu ungewiss. „Sie sprechen kein Englisch und haben einen russischen Arbeitgeber“, sagt Dima. „Sie wissen nicht, wie sie in einem anderen Land überleben sollen.“

Das wissen übrigens auch viele Mitglieder der goldenen Schicht nicht. Seit Februar fungieren Reitor und seine Frau als eine Art Jugendherbergseltern für geflüchtete junge Landsleute. Bei ihrer Ankunft wurden sie in ihrer Wohnung untergebracht, sechs auf einmal. Seitdem steht er ihnen mit Rat und Tat zur Seite, etwa dreißig Mann. Er spricht liebevoll von „unserer Kindergartenklasse“. Lachend: „Wenn es nicht online ist, können sie gar nichts machen. Wie geht man zu einer Bank? Wie bekommt man Essen, wenn man keine Pizza online bestellen kann? Sie sind hilflos.“

Auch in der ersten Abwanderungswelle kurz nach der Invasion waren es vor allem junge IKT-Arbeiter, die sich als digitale Nomaden in der Türkei niederließen. Außenstellen und Orte wie das Espresso Lab in Istanbul und Antalya sind seit Monaten voller Russen.

Der ältere Reitor tadelt das Trio – dem er heute zum ersten Mal begegnet – beinahe, weil sie nach dem Februar nicht gleich abgereist sind. Ihre Verteidigung: Sie hatten bereits im März Tickets nach Georgien gekauft, aber sie wurden für ungültig erklärt. Danach seien sie „es leid, die ganze Zeit Angst zu haben“. Darüber hinaus hat jeder je nach den Umständen seine eigenen Gründe.

„Stimmt es, dass die Europäer alle Russen für schlecht halten?“

Dima ist vor einem Monat gegangen, weil sein britischer Arbeitgeber keine Geschäfte mehr mit Russland machen konnte. Er musste gehen, um seinen Job zu behalten. Als digitale Nomadin verbrachte Valera kürzlich vier Wochen in Amsterdam („hatte eine tolle Zeit“) und kehrte am Tag vor Putins Aufruf zur Mobilisierung nach Moskau zurück. Er zögerte keinen Moment: raus.

Ivan hat eine Freundin, die zögerte und immer wieder auf Verzögerung drängte. Er ist diese Woche alleine abgereist, aber jetzt ist auch seine Freundin abgereist: Sie hat am Mittwoch einen Flug nach Istanbul.

Ob das Paar dort bleibt oder vielleicht nach Europa weiterzieht, werden sie sehen. Etwas ängstlich fragt Ivan: „Stimmt es wirklich, dass die Europäer alle Russen für schlecht halten, wie unsere Medien behaupten?“ Valera, die gerade vier Wochen in den Niederlanden verbracht hat, beruhigt ihn. Und dass Türken auch okay sind, kann Dima getrost bestätigen. „So nette Leute hier!“

Währenddessen bereiten sich auch andere Freunde in Moskau und St. Petersburg (Bollwerke der goldenen Schicht) auf die Abreise vor. Wie Reitor sagt: „Die große Welle steht noch bevor.“

Die Mobilmachung hat den Russen den Krieg ins Haus gebracht

Hoffentlich ist es noch rechtzeitig, denn die Freunde haben gehört, dass die Grenze bald schließt. Vielleicht schon diese Woche, wenn Russland nach den Referenden die Provinzen Donezk und Luhansk annektiert. Obwohl es nur Gerüchte sind, nennen die jungen Männer die Schließung der Grenzen „sicher“: Denn nach der Annexion wird auf „russischem Territorium“ gekämpft, es wird richtig spannend.

Die Mobilisierung „hat den Krieg ins Volk gebracht“, wie Reitor sagt. Er fragt sich, wohin das führen wird. Er glaubt nicht an eine Revolution. „Die Alten haben Heimweh nach der Sowjetunion. Sogar das Eis war damals besser, denken sie.‘

Putins Gegner stimmen also mit den Füßen ab. Bei einem Anruf von de Volkskrant Russische Chatgruppen in der Türkei erhalten weiterhin Reaktionen von jungen Leuten, die sich unterhalten wollen. Zum Beispiel berichtet eine Katerina, dass sie eine Antikriegsseite gestartet hat. Um den Jugendherbergsvater zu zitieren: Diese Kids können alles online machen.

Das befreundete Paar hält sich derweil am Sonntagnachmittag noch in Kasachstan auf. Einen bezahlbaren Flug nach Istanbul haben sie noch nicht gefunden. Hoffentlich, sagt Reitor, bekommen sie Hilfe von Zivilisten vor Ort und müssen heute Nacht nicht wieder draußen auf einer Bank schlafen. Er zeigt wieder sein Telefon: In Oral, einer anderen Grenzstadt, hat das CinemaPark-Kino seinen Raum für Gäste zur Verfügung gestellt.



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