Gerichtsurteil hinterlässt Scholz‘ Erbe in Trümmern


Sie wurden „Panzerfaust“, „Ka-Boom“ und „Doppel-Ka-Boom“ genannt – die beispiellosen Krisenbekämpfungsprogramme der letzten Jahre, von denen Olaf Scholz hoffte, dass sie seinen Platz in der deutschen Nachkriegsgeschichte besiegeln würden.

Doch nun besteht die Gefahr, dass die Kanzlerin aus einem ganz anderen Grund in die Annalen eingeht: ein Buchhaltungstrick, den das oberste deutsche Gericht als illegal eingestuft hat und der ein Loch in den Staatsfinanzen des Landes von 60 Milliarden Euro verursacht hat.

„Es mag zwar von Scholz‘ Funktionären erfunden worden sein, aber letztendlich ist er verantwortlich“, sagte Carsten Linnemann, Generalsekretär der oppositionellen Christdemokraten. „Er ist der Kanzler. Die Verantwortung liegt bei ihm.“

Deutschland steckt seit dem Bombenurteil des Verfassungsgerichts vom 15. November in einer Haushaltskrise, die alle Ausgabenpläne der Regierung für dieses Jahr und 2024 in Trümmern liegen ließ.

Das Gericht in Karlsruhe entschied, dass die Minister gegen das Gesetz verstoßen haben, als sie 60 Milliarden Euro ungenutzter Kreditkapazität aus ihrem Pandemiehaushalt an einen „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF) übertragen haben, der Projekte zur Modernisierung der deutschen Industrie und zur Bekämpfung des Klimawandels finanziert.

Die Idee hinter dem Transfer stammt aus der Zeit, als Scholz Finanzminister war, wurde aber kurz nach seinem Amtsantritt als Bundeskanzler im Jahr 2021 umgesetzt. Der Plan war ein klassischer Kompromiss, der den Partnern in Scholz‘ schwerfälliger Koalition – Sozialdemokraten (SPD), Grünen und der liberalen FDP – erlaubte – ihre Meinungsverschiedenheiten über die Finanzpolitik zu vertuschen und ihre Wahlversprechen zu erfüllen.

Die Ausgaben würden erhöht, jedoch ohne übermäßige Kreditaufnahme. Die SPD und die Grünen sicherten sich die Mittel, die sie brauchten, um die deutsche Industrie klimaneutral zu machen, während die fiskalisch restriktive FDP das Versprechen erhielt, die „Schuldenbremse“ – die verfassungsmäßige Einschränkung der Neuverschuldung, die während der Pandemie ausgesetzt wurde – im Jahr 2023 wiederherzustellen. Das ganze Konstrukt wurde für verfassungswidrig erklärt.

Arbeiter am Fließband von Volkswagen
Arbeiter am Fließband von Volkswagen in Wolfsburg, Norddeutschland © Sweb Pfortner/POOL/AFP/Getty Images

Versuche, Scholz allein für das Debakel verantwortlich zu machen, wiesen die Sozialdemokraten zurück. „Wir können nicht eine Person verwandeln. . . zum Sündenbock“, sagte Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.

„Es ist nicht so, dass nur eine Person einen Fehler gemacht hat“, sagte er. Die Schuld liege vielmehr bei allen Koalitionsparteien, die wollten, dass der deutsche Staat mehrere Krisen bezahle und gleichzeitig seine verfassungsmäßigen Grenzen für Defizitausgaben einhalte, argumentierte er.

Das Problem von Scholz besteht jedoch darin, dass das Urteil das von ihm mitgestaltete Finanzsystem auf den Kopf stellt. Es demontiert und diskreditiert dieses System mit einer Strenge, die sowohl seine Verbündeten als auch seine Gegner schockiert hat.

„Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass die Scholz-Regierung zweimal gegen das Gesetz verstoßen hat: einmal durch die Umwidmung der zur Bekämpfung der Pandemie aufgenommenen Kredite und ein zweites Mal dadurch, dass sie das Geld in den Folgejahren ausgegeben hat und nicht im Jahr der Bewilligung der Kreditlinien“, sagte Linnemann. „Das ist ziemlich schockierend.“

Scholz begann als klassischer deutscher Finanzminister, der die Schuldenbremse strikt beachtete und die Neuverschuldung auf ein Minimum beschränkte. Das änderte sich mit der Pandemie, als er einen Nachtragshaushalt durchsetzte, der mit neuen Schulden in Höhe von 156 Milliarden Euro finanziert wurde, und eine „Panzerfaust“ unbegrenzter Liquiditätshilfen für deutsche Unternehmen vorstellte, die vom Lockdown bedroht waren.

Drei Monate später stellte er ein 130-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket vor, das Deutschland mit einem „Ka-Boom“ aus der Covid-19-Pandemie führen soll.

Dann marschierte Russland letztes Jahr in die Ukraine ein und reduzierte seine Gaslieferungen nach Europa drastisch, was die deutsche Wirtschaft in eine Krise stürzte. Scholz, der damalige Kanzler, startete sein neuestes Programm – genannt „Doppel-Ka-Boom“.

Dabei ging es darum, einen während der Pandemie geschaffenen Fonds zur Rettung angeschlagener Unternehmen, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), mit Kreditlinien in Höhe von 200 Milliarden Euro auszustatten und damit die Strom- und Gaspreise für Unternehmen und Verbraucher zu subventionieren.

Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr jedoch nur 30 Milliarden Euro aus dem WSF ausgezahlt, der Rest wurde auf das Jahr 2023 verschoben. Dies verstoße gegen einen Grundsatz, so das Urteil des obersten Gerichts, wonach die Kreditkapazität in dem Jahr genutzt werden müsse, für das sie genehmigt wurde. Am Montag bestätigte die Regierung, dass sie nun plant, das WSF bis zum Jahresende abzuwickeln, anstatt die Mittel auf das Jahr 2024 zu übertragen.

„Das Scholz-System stützte sich auf all diese außerbudgetären Vehikel, und jetzt sind sie alle zusammengebrochen wie ein Kartenhaus“, sagte ein Beamter, der unter der Kanzlerin gearbeitet hat.

Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner sprechen bei einer Pressekonferenz zum Thema Energieversorgung mit Bundeskanzler Olaf Scholz
Von links: Wirtschaftsminister Robert Habeck, Finanzminister Christian Linder und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz zum Thema Energieversorgung © John MacDougall/AFP/Getty Images

Viele betrachten das Urteil des Gerichts als einen Wendepunkt – es „fordert Zeit für eine Form der Haushaltsführung, die immer mehr Ausgaben ermöglicht. . . und einfach außer Kontrolle geraten“, hieß es letzte Woche in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung.

„Das Durchwursteln mithilfe von Buchhaltungstricks hat so tiefe Wurzeln geschlagen, dass es in Berlin als Gewohnheitsrecht galt“, heißt es weiter. „Olaf Scholz hat maßgeblichen Anteil daran.“

Das Magazin Stern war knapper: „Das Scholz-Prinzip ist Geschichte“, schrieb es am Montag.

Für die Kanzlerin war das Gerichtsurteil ein zutiefst demütigender Rückschlag.

Scholz wurde oft wegen seines mangelnden Charismas, seiner langweiligen Reden und seines etwas distanzierten norddeutschen Auftretens verspottet. Aber seine Befürworter argumentierten, dass er diese Schwächen durch eine ruhige Kompetenz wettmachte, die die Wähler schätzten. Sie wiesen auf seinen geschickten Umgang mit der Energiekrise, seine Schaffung eines neuen 100-Milliarden-Euro-Investitionsfonds für die Streitkräfte und seine stetige Aufstockung der militärischen und finanziellen Hilfe für die Ukraine hin.

Olaf Scholz und Angela Merkel
Bundeskanzler Olaf Scholz und Angela Merkel, seine Vorgängerin. Anders als Merkel habe es Scholz versäumt, mit den Wählern zu kommunizieren, die verzweifelt nach Orientierung und Trost suchten, so ein prominenter Meinungsforscher © Andreas Rentz/Getty Images

Nun hat der Ruf der stillen Professionalität einen erheblichen Dämpfer erlitten. Den Meinungsforschern zufolge war Scholz für die Wähler jedoch schon lange eine Enttäuschung. „Schon vor der Haushaltskrise hatten sie eine schlechte Meinung von ihm, das hat es nur noch schlimmer gemacht“, sagte Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa.

Als die Wähler gefragt wurden, wen sie bei einer hypothetischen Direktwahl zum Kanzler wählen würden, hätten sich nur 20 Prozent für Scholz entschieden, während rund 60 Prozent immer noch Angela Merkel gewählt hätten, sagte Güllner.

Merkel wurde oft für ihre Krisenmanagementfähigkeiten gelobt. Viele erinnern sich an ihr einfaches Versprechen während der globalen Finanzkrise 2008/2009, dass die Ersparnisse der Deutschen sicher seien. Güllner sagte, Scholz habe es im Gegensatz zu Merkel versäumt, mit Wählern zu kommunizieren, die verzweifelt nach Orientierung und Trost suchten.

In der Energiekrise des letzten Jahres habe man „immer gehofft, er würde dem Land Orientierung geben, ein Gefühl der Sicherheit, und das hat er nie getan“, fügte Güllner hinzu. „Er zeigt einfach keine Führungsqualitäten.“



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