Die Erwartungen an die Gespräche mit Tunesien sind offenbar hoch: Rutte wird am Sonntagnachmittag von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, begleitet. Spitzenpolitiker reisen in der Regel nicht zu Gipfeltreffen, wenn sie damit rechnen, mit leeren Händen zurückzukehren.
Dennoch macht der tunesische Präsident Kais Saed noch nicht den Eindruck, dass er Lust auf einen Deal hat. Er habe nicht vor, die Rolle des Grenzschutzes zugunsten anderer Länder zu übernehmen, sagte er am Samstagabend. „Die Lösung wird nicht auf Kosten Tunesiens gehen, wir können kein Hüter ihrer Länder sein“, sagte Saied. Dennoch geht Premierminister Rutte davon aus, dass er am Sonntag „einen wichtigen Schritt“ machen kann.
Ruttes Interesse ist klar: Er steht seit letztem Jahr in seinem eigenen VVD unter Beschuss, weil es dem Kabinett nicht gelungen ist, die Einwanderung unter Kontrolle zu bringen. Obwohl in diesem Jahr bisher weniger Menschen als erwartet in die Niederlande eingereist sind, rechnet das Kabinett laut offizieller Prognose mit mehr Menschen als im letzten Jahr. Dann brach die Asylunterkunft mehrmals unter den Menschenmassen zusammen.
Ruttes hat seinen eigenen Anhängern versprochen, dass er sich persönlich zum Eingreifen verpflichten werde. Am vergangenen Donnerstag hatte er in diesem Bereich zum ersten Mal seit Langem wieder Grund zum Feiern, als sich die Asylminister in der EU auf ein neues System zur Aufnahme von Asylbewerbern an den europäischen Außengrenzen einigten: Asylbewerber aus sicheren Ländern werden sofort ausgewählt und zurückgeschickt. Allerdings ist allen Beteiligten klar, dass dies eine Realität auf dem Papier ist, wenn keine Vereinbarungen mit den Herkunfts- und Reiseländern der Asylbewerber getroffen werden.
Tunesien steht als wichtiges Transitland für viele Migranten ganz oben auf der Liste: Die Hälfte der Menschen, die dieses Jahr in Italien ankamen, reisten aus diesem Land ab. Deshalb haben sich Rutte und Meloni in ihrem Bestreben gefunden, Saied davon zu überzeugen, seine Küsten besser zu bewachen und möglichst auch Menschen zurückzunehmen, sobald sie in Italien abgewiesen wurden.
Überfüllte Flüchtlingslager
Das tunesische Interesse an einem Deal ist weniger groß. Saied wartet nicht auf überfüllte Flüchtlingslager voller abgewiesener Menschen in Italien. Er hat durchaus finanzielle Motive: Tunesien kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen, darunter hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, schnell wachsende Armut sowie Nahrungsmittel- und Treibstoffknappheit. Die Proteste gegen die Regierung nehmen zu.
Eine finanzielle Unterstützung der Europäischen Union könnte Saied wieder etwas Luft verschaffen. Er hofft auch, dass seine Besucher Druck auf den Internationalen Währungsfonds ausüben können, 1,9 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern bereitzustellen. Es wurde eingefroren, weil der Fonds mit Saieds Finanz- und Wirtschaftspolitik unzufrieden ist.
Ein Deal mit Tunesien wird nicht von allen im niederländischen und europäischen Parlament mit Beifall begrüßt werden. Auf der linken Seite gibt es ernsthafte Zweifel am moralischen Gehalt solcher Vereinbarungen: Saied ist ein autokratischer Führer, der mit einer neuen Verfassung die Macht fast vollständig an sich gerissen hat und keine Kritik seiner politischen Gegner duldet. Oppositionsführer Rached Ghannouchi wurde im Mai dieses Jahres wegen Volksverhetzung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Für Rutte ist ein mögliches Abkommen mit Tunesien nicht das letzte Hindernis in dieser Angelegenheit. Sein VVD will außerdem vor der politischen Sommerpause neue Vereinbarungen auf nationaler Ebene treffen, um die Attraktivität der Niederlande für Einwanderer zu verringern. Ob das klappt, ist sehr ungewiss. Die meisten Wünsche des VVD stoßen auf grundsätzliche Einwände der Koalitionspartner D66 und ChristenUnie.