„Frauen, Leben, Freiheit!“ Seit Tagen gehen Iraner gegen Unterdrückung auf die Straße

„Frauen Leben Freiheit Seit Tagen gehen Iraner gegen Unterdrueckung auf


Frauen flüchten vor der Bereitschaftspolizei im Iran nach einer Demonstration gegen die strenge Kleiderordnung für Frauen.Bild AP

Es ist fast ein Klischee: Wenn es im Iran zu Protesten kommt, dann ist die wirtschaftliche Malaise „die eigentliche Ursache“. Diesmal ist es anders. „Das ist eine feministische Revolution“, sagte Shadi, eine 25-jährige Teheranerin, am Telefon. „Es geht nicht um die Wirtschaft, das ist natürlich Feminismus! Hier geht es um Bürgerrechte, um Menschenrechte. Ich möchte nicht dafür verprügelt werden, was ich trage oder nicht trage. Ich bin Muslimin, aber ich möchte meine Haare draußen zeigen, ich möchte ein T-Shirt tragen.“

Genau diesen Freiheitsdrang hat der 22-jährige Mahsa Amini vergangene Woche in der iranischen Hauptstadt von der Ershad, der Sittenpolizei, festgenommen. Am Freitag starb die stets gesunde junge Frau in der Polizeiwache.

Bilder des zusammenbrechenden Amini, die von den Behörden verbreitet wurden, um zu beweisen, dass keine Gewalt angewendet worden war, waren der Funke im Pulverfass. Fünf Tage in Folge sind Frauen und Männer im Iran auf die Straße gegangen. Der Protest wird immer größer und breitet sich über immer mehr Städte aus, obwohl (und weil) die Bereitschaftspolizei hart durchgreift. Mindestens acht Menschen sind gestorben, wahrscheinlich mehr.

Eine der Demonstrationen gegen Zwangsverschleierung in Teheran am 21. September.  Image Foto über soziale Medien

Eine der Demonstrationen gegen Zwangsverschleierung in Teheran am 21. September.Image Foto über soziale Medien

„Die Polizei ist so grausam“, sagt Shadi. „Sie haben alle geschlagen, auch ältere Männer und Frauen. Männer in Zivil greifen wahllos Menschen an. Manchmal werden Häftlinge in Krankenwagen transportiert, weil Häftlingstransporter von Demonstranten angehalten werden.“

Jüngste Generation

Am Dienstagabend wurde die Englischlehrerin in die Enge getrieben, als sie wegen des Tränengases mit anderen in eine U-Bahn-Station fliehen musste. Später konnte sie ihre (alkoholfreie) Kneipe in Valiasr, Teherans größter Einkaufsstraße, nicht mehr erreichen. „Valiasr war voll mit Leuten, ich kam nicht durch.“

null Bild für de Volkskrant, Fotograf ist der Redaktion bekannt

Bild für de Volkskrant, Fotograf ist der Redaktion bekannt

Vor einem Jahr kennengelernt de Volkskrant die Frau in diesem Pub, ein Zufluchtsort mit der Aufschrift „Dies ist eine englischsprachige Zone“ über der Bar. An der Wand hängen unter anderem Fotos von John Lennon und Leonardo DiCaprio. Shadi, die perfekt amerikanisches Englisch sprach, war eine „extremistische Feministin“, ein Fan der Beatles, Alfred Hitchcock und Freddy Mercury und eine entschiedene Gegnerin der Hinrichtung schwuler Männer und des obligatorischen Kopftuchs. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freunde bezeichnete sie sich immer noch als „gläubige Muslimin“.

Schon damals spürten Shadi und ihre Kollegen im Café, dass sich in der jüngsten Generation erwachsener Iraner, der Generation Z, etwas zusammenbraute. Eine merkwürdige Mischung aus Niedergeschlagenheit und Rebellion. „Die Teenager und Zwanziger von heute werden das Patriarchat verändern“, sagt Karim, ein 26-jähriger Architekturstudent. „Wir stehen am Vorabend des Wandels.“

Er sprach nicht so viel über Politik, es gab kein Vertrauen mehr in diese anglophone Zone, nicht einmal in sogenannte Reformer. Es gab jedoch einen Glauben an das Potenzial der Gesellschaft. „Sie können nicht behaupten, dass die Menschen hinter dem Regime stehen“, sagte Karim. „Sie müssen einen Kompromiss finden. Mehr Freiheiten, mehr Rechte für Frauen.“

Wand der Angst

Es war kurz vor der Präsidentschaftswahl, die den Konservativen Ebrahim Raisi an die Macht bringen sollte. Unter ihm ist zumindest in den letzten sechs Monaten die Kontrolle über die Einhaltung der Kleiderordnung wieder strenger geworden. Lieferwagen der Ershad durchstreiften die Straßen der Städte. Es kam zu einer Reihe von Vorfällen, Videos von grob behandelten Frauen wurden verbreitet. Der Tod von Mahsa Amini war der dramatische Tiefpunkt.

null Bild für de Volkskrant, Fotograf ist der Redaktion bekannt

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„Es war eine Anhäufung“, sagt Peyman Jafari, Iran-Experte von der Princeton University in den USA und dem International Institute of Social History (IISH) in Amsterdam. „Die Kleiderordnung wird von einem wachsenden Teil der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert, auch nicht von vielen Ordensfrauen. Gerade junge Menschen, ob säkular oder religiös, sagen: Das halten wir nicht mehr aus. Die Unterstützung für den Hijab ist dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne.“

„Heute ist es im Iran ganz normal, zum Beispiel in Restaurants das Kopftuch abzulegen. Genau das tun Frauen. Deshalb gehen die Behörden jetzt verstärkt auf die Straße, um zu zeigen, dass sie noch da sind.“

„Es ist anders als bei früheren Protesten. Diese waren oft individuell, wie zum Beispiel ein Foto in sozialen Medien von einer Frau mit ihrem Kopftuch an einem Stock. Jetzt werden bei Protesten Kopftücher verbrannt. Das ist wirklich eine Umstellung. Die Mauer der Angst fällt.“

null Bild für de Volkskrant, Fotograf ist der Redaktion bekannt

Bild für de Volkskrant, Fotograf ist der Redaktion bekannt

Jafari schließt sich Shadis Aussage an, dass es jetzt vor allem um Frauenrechte gehe. Die wirtschaftliche Lage trägt zur Unzufriedenheit bei, ist aber nicht der Hauptfaktor. Das erkenne man an den Slogans, sagt er. „Frauen, Leben, Freiheit“ ist ein wichtiger Slogan. Oder ‚Freedom of Choice‘, zusätzlich zu den üblichen regierungsfeindlichen Parolen.

Das Regime ist in Panik und weiß nicht, wie es reagieren soll, denkt Jafari. Nicht nur viele religiöse Iraner lehnen den Kleiderzwang ab, auch in der konservativen Basis gibt es Zweifel. Früher konnte eine Dose von Angehörigen der Basij-Miliz immer als Machtdemonstration geöffnet werden. Jetzt beginnen die Basij-Kämpfer zu erkennen, dass sie auf der Straße der Mehrheit der Bevölkerung gegenüberstehen. Sie lassen sich nicht mehr so ​​leicht verprügeln. „Die eigenen Unterstützer des Regimes werden demotiviert“, sagt Jafari. „Die Unzufriedenheit hat sich auf breitere Bevölkerungsschichten ausgebreitet.“

Oder wie Shadi aus Teheran mit zahlenmäßiger Übertreibung über den Obersten Führer Ali Khamenei sagen könnte: „Schreiben Sie es auf: 95 Prozent der Menschen im Iran wollen diesen Führer nicht. Nur 5 Prozent Bastarde unterstützen ihn.‘



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