Europäische Fiskalregeln in Gefahr: Ist der „Brüsseler Sparwahn“ vorbei?

Europaeische Fiskalregeln in Gefahr Ist der „Bruesseler Sparwahn vorbei


Finanzministerin Kaag Anfang dieser Woche in Brüssel, flankiert von ihren Kolleginnen Annika Saarikko (Finnland) und Nadia Calvino, der spanischen Wirtschaftsministerin.Statue Kenzo Tribouillard / AFP

Die Europäische Kommission ist einen Schritt zu weit gegangen, um sich für die durch den Stabilitätspakt verursachten Sparmaßnahmen zu entschuldigen. Das ändert nichts daran, dass sie vorschlägt, die europäischen Fiskalregeln zu lockern. Länder mit hoher Staatsverschuldung werden mehr Zeit haben, diesen Schuldenberg abzubauen. Geht die Ära der Austerität zu Ende?

Laut MdEP Paul Tang (PvdA) ja. „Der Brüsseler Sparwahn ist vorbei“, jubelte er am Mittwoch, nachdem die Kommission ihre Ideen vorgestellt hatte. Sein Kollege Bas Eickhout (GroenLinks) sprach von „einem guten Start“. Er glaubt auch, dass Brüssel endlich aus den politischen Fehlern der Eurokrise gelernt hat. Jetzt sind die Niederlande noch da, seufzten beide Abgeordneten.

Das Lob von links wird der Kommission gut tun, denn es ist fraglich, ob die Finanzminister der Euroländer – wenn sie über Pläne diskutieren – im nächsten Monat genauso begeistert sein werden. Die erste Reaktion von Bundesfinanzminister Christian Lindner war geradezu cool: Er sei bereit, darüber zu sprechen, sei sich aber „nicht sicher“, ob die neuen Regeln der deutschen Haushaltsdisziplin genügen.

Maastricht

Alle sind sich einig, dass der Stabilitätspakt – in dem europäische Fiskalregeln verankert sind – angepasst werden muss. Der Pakt stammt aus dem Jahr 1997 und konkretisierte im Vorfeld der Euro-Einführung die Vereinbarungen im Vertrag von Maastricht (1992) über die berühmte Defizitregel (Finanzdefizit der Mitgliedsstaaten beträgt maximal 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und die Schuldenregel (maximale Staatsverschuldung von 60 Prozent). Regeln – laut dem damaligen Finanzminister Wim Kok „in Marmor gemeißelt“ – um den Euro zu einer harten Währung zu machen.

„Seit Maastricht haben sich die Zeiten ziemlich geändert“, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis bei der Vorstellung der Pläne. Die Eurokrise (2009-2015) hat das Scheitern des Stabilitätspakts schmerzhaft gezeigt. Die Mitgliedstaaten hatten die Fiskalregeln systematisch ignoriert, wurden aber nicht bestraft, die Banken kämpften mit Ramschkrediten, der Pakt sah keinen Notfallfonds vor und erzwang Sparmaßnahmen, die das Wachstum drosselten.

Die durch die Corona-Pandemie verursachte Rezession und die wirtschaftliche Misere nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine (explodierende Energiepreise und Inflation) lassen die Staatsverschuldung der Mitgliedsstaaten wieder steigen. Vor allem in Ländern, in denen sie schon lange zu hoch ist: Griechenland (186 Prozent), Italien (148 Prozent), Portugal (120 Prozent), Spanien (115 Prozent), Frankreich (111 Prozent).

Die Kommission läuft bei der Überarbeitung des Pakts auf Eierschalen. Sie habe erst am Mittwoch eine „Orientierung“ gegeben. Gesetzesvorschläge werden erst folgen, wenn sich die Mitgliedstaaten darauf einigen. Frühestens im nächsten Frühjahr.

‚Unrealistisch‘

Die Kommission will die „unrealistische“ Schuldenerlassregelung abschaffen. Die Obergrenze von 60 % bleibt bestehen – schließlich ist sie im Europavertrag festgelegt –, aber den Mitgliedstaaten wird mehr Zeit eingeräumt, um diese Grenze zu unterschreiten. Die Regel, dass die außergesetzliche Verschuldung (alles über 60 Prozent) in zwanzig Jahren abgebaut wird, verschwindet im Müll. Diese 1/20-Regel, die 2011 eingeführt wurde, um die harte Obergrenze aufzuweichen, würde bei den derzeitigen Schuldenständen in Griechenland und Italien zu strengen Sparmaßnahmen führen.

Die Kommission schlägt vor, dass Mitgliedstaaten mit Überschuldung einen eigenen Aktionsplan erstellen, ein strenger Zeitplan ist nicht mehr erforderlich. Ein Land muss sich jedoch an den vereinbarten (und von der EU genehmigten) Plan halten. Die Bußgelder für Verstöße sind erheblich geringer als die derzeitigen Sanktionen (teilweise aufgrund der nie verhängten Höhe). „Wir reduzieren die Bußgelder, damit sie effektiver verhängt werden können“, erklärt die Kommission.

Nicht unwichtig ist, dass die Kommission den Ländern zusätzliche Zeit (bis zu drei Jahre) einräumt, um ihre Schulden zu reduzieren, wenn sie in grüne oder digitale Projekte investieren und Reformen (z. B. das Rentensystem) durchführen. Nein goldene Regel, wobei einige Kategorien öffentlicher Investitionen nicht als Staatsschulden gelten. Das sei „zu umstritten“, so Kommissar Paolo Gentiloni (Wirtschaft), vor allem in Berlin. Aber zusätzliche Zeit durch Investitionen zum Abbau von Schulden zu verdienen, hat den gleichen Effekt, sagt er.

Kaag

Ministerin Sigrid Kaag (Finanzen) sieht in den Vorschlägen der Kommission „viele positive Elemente“. Es überrascht nicht, dass sie den Ideen ähneln, die Kaag Anfang dieses Jahres mit ihrer spanischen Kollegin Nadia Calviño auf den Tisch gebracht hat. Sie betont aber die Notwendigkeit einer effektiven Aufsicht: weniger Ausnahmeklauseln, lieber im Strafraum.

Der schwerste Widerstand kommt aus Berlin, Brüssel erwartet. Lindner verwies am Mittwoch auf steigende Zinsen, Länder täten also gut daran, ihre Schulden zu reduzieren. Am meisten fürchtet der deutsche Minister, dass sich die Mitgliedstaaten bei ihren nationalen Plänen mit Brüssel einigen.

Dennoch ist die Zeit des automatischen Sparens vorbei. Das liegt nicht an den neuen Kommissionsplänen, sondern ist die Lehre aus der Eurokrise. Die Corona-Rezession wurde mit hunderten Milliarden Euro an zusätzlichen Staatsausgaben bekämpft. Die EU-Länder tun jetzt dasselbe, um die Energiekosten erschwinglich zu halten. Und Deutschland ist daran voll beteiligt.



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