Eine Katastrophe wie die in Indien ist für die Beteiligten schrecklich, bietet aber auch Chancen für kluge Politiker

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Der Premierminister des indischen Bundesstaates Uttarakhand, Pushkar Singh Dham, macht ein Selfie mit einem Bauarbeiter, der gerade aus einem eingestürzten Tunnel gerettet wurde.Bild AFP

Es gibt Tage, da passt für einen Politiker alles zusammen. Der Dienstag war ein solcher Tag für den Premierminister des indischen Bundesstaates Uttarakhand, Pushkar Singh Dhami. Er war dabei, als die ersten von 41 Bauarbeitern aus dem eingestürzten Tunnel befreit wurden, in dem sie siebzehn lange Tage gefangen waren. Nach ihrer Befreiung wurden die Überlebenden festlich mit Blumenkränzen geschmückt. Der indische Premierminister Modi übermittelte telefonisch Glückwünsche. Und „Ministerpräsident“ Singh Dhami bestätigte seine Freude sofort, indem er ein Selfie mit dem Arm um die Schulter eines Überlebenden machte.

Für den Fall, dass die Presse diesen hervorragenden Pressemoment verpasste, übernahm Singh Dhami höchstpersönlich mit seinem Smartphone die Kontrolle. Und das mit Erfolg, denn auf seinem Instagram wurden die Fotos, die er von der Feier mit ihm in der Hauptrolle teilte, zehntausendfach geliked. Lass eine gute Krise niemals ungenutzt verstreichen, muss er sich in Anlehnung an Winston Churchill gedacht haben: Eine Katastrophe ist schrecklich für die Beteiligten, bietet aber auch Chancen für kluge Politiker. Sie surfen auf den Wellen der Emotionen, was echte Besorgnis nicht unbedingt ausschließt.

Über den Autor

Arno Haijtema ist Herausgeber von de Volkskrant. Er schreibt über Fotografie und die Art und Weise, wie Nachrichtenfotos unser Weltbild bestimmen.

Seit dem 12. November sympathisieren Millionen Inder mit den Bauarbeitern – „41 Helden“, wie sie in den Medien nannten –, die in dem im Bau befindlichen Tunnel unter dem Himalaya gefangen waren, nachdem eine besorgniserregende Masse aus Steinen und Sand den Ausgang blockiert hatte Erdrutsch. Das erste Lebenszeichen der verschollenen Arbeiter erhielt die Bevölkerung erst am 21. November, als eine Kamera durch eine Röhre in den Raum geschoben wurde, in dem sich die Männer als eingesperrt herausstellten. Kalt, hungrig, aber lebendig. Ein abgemagertes, bärtiges Gesicht starrte in die Kamera, ein Anblick, der das anfängliche Drama plötzlich in ein unwiderstehliches Medienereignis der Hoffnung und des Heldentums verwandelte.

Was folgte, war eine Versammlung von Fernsehreportern und Fotografen am Eingang des Tunnels, die über die tapferen Bemühungen der Hunderten von Rettungskräften berichteten. Sie griffen die Blockade mit Bulldozern, Presslufthämmern und schließlich mit altmodischen Spitzhacken an, um manuell und vorsichtig in die instabile Felsmasse eindringen zu können. Durch die Röhre wurden die Bauarbeiter in ihrer Not mit Vorräten versorgt.

Köche griffen ein und bereiteten vor den Kameras aufwendige Mahlzeiten zu. Am Eingang des eingestürzten Tunnels errichteten die Anwohner einen Schrein für Opfergaben zur Besänftigung der Götter: Sie vermuteten, dass der Abriss eines Tempels, der für den Tunnelbau abgerissen worden war, göttlichen Zorn geweckt hatte. Minister Singh Dhami wurde beim Beten vor dem provisorischen Hindu-Schrein fotografiert.

In der Zwischenzeit versammelten sich die Angehörigen der Opfer, die, anders als bei den meisten Katastrophen dieser Art, nicht verzweifelt auf die unausweichliche Katastrophe warteten, sondern voller Hoffnung dem Fortgang der Rettungsaktion zusahen.

Am Dienstag erlebten sie, wie ihre Angehörigen schließlich befreit und mit einem Armeehubschrauber zur medizinischen Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurden. Dort wurden sie auch vom besorgten Singh Dhami begrüßt. Die Retter wurden in den indischen Medien zu Helden der Nation erklärt, und der Minister muss gespürt haben, wie sich ihr Erfolg auch auf ihn auswirkte. Wie immer hat der Erfolg viele Väter.

Für nationale Administratoren wie Singh Dhami und Modi kam die lebensrettende Operation aus einem anderen Grund zum richtigen Zeitpunkt. Am Dienstag begann in Australien eine internationale Konferenz zum Thema Arbeitsunfälle. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation sterben jedes Jahr drei Millionen Menschen bei Arbeitsunfällen, die überwiegende Mehrheit davon in Asien. Gerade im Baugewerbe sind die Risiken enorm. Nach Angaben des British Safety Council starben 2017 in Indien zwanzigmal so viele Arbeiter wie in Großbritannien. Es gibt also für die indischen Beamten noch viel zu tun, um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern.

Wenn sie von den miserablen Arbeitsbedingungen ablenken wollten, war es für die Behörden ein Glücksfall, dass sie am ersten Tag der Konferenz zeigen konnten, was mich am meisten an eine Wiedergeburt erinnerte. Das Gesicht des Bauarbeiters vor der Kamera: eine Endoskopie im Mutterleib. Der Tunnel: der Geburtskanal, aus dem die Neugeborenen hervorgingen. Und natürlich nach der Geburt: die ungeheuchelte Freude der Umstehenden, von denen die meisten keine andere Absicht hatten, als 41 Leben zu retten.



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