Eine grüne Partei, die mehr Kohle verbrennt und trotzdem an Popularität gewinnt, wie ist das möglich?

Eine gruene Partei die mehr Kohle verbrennt und trotzdem an


Wirtschaftsminister Robert Habeck (am Stehtisch in der Mitte) bei der Eröffnung des Kieler-Woche-Segelwettbewerbs, 18. Juni 2022.Bild ANP

Als der deutsche Grünen-Minister und Klimaaktivist Robert Habeck am Sonntag ankündigte, die Kohlekraftwerke schneller laufen zu lassen, um das fehlende russische Gas zu kompensieren, gab es aus seiner Partei keine Revolte. Niemand schrie, Habeck leugne seine Prinzipien. Na ja, ein bisschen Kritik gab es von der Umweltbewegung Fridays for Future, aber ansonsten meistens Verständnis: Es ist Krieg und niemand will, dass Tausende von Arbeitsplätzen verloren gehen, weil die deutsche Industrie stillsteht.

Außerdem hat Habeck es schon einmal erklärt: Wir können nicht alles haben, schon gar nicht jetzt. Als ihn im April ein Talkshow-Moderator bei seinem Besuch beim Gasproduzenten und Menschenrechtsverletzer Katar angriff, antwortete der Minister mit einer Lektion, wie die Welt funktioniert. „Womit fahren unsere Autos eigentlich?“, fragte Habeck Gastgeber Marcus Lanz. „Könnte es sein, dass es Öl aus Saudi-Arabien enthält? Wo ist die Sendung von Marcus Lanz darüber, wie heuchlerisch wir sind, weil wir uns über Putin aufregen, aber mit saudischem Öl herumfahren? Machen wir uns nichts vor: Mit unserem täglichen Leben hinterlassen wir eine Spur der Verwüstung auf der Erde. Was wir tun, hat Konsequenzen.

Krass† Robert Habeck ist Vizekanzler, Grünen-Politiker und „Superminister“ im neuen und mächtigen Ressort für Wirtschaft und Klimaschutz. Er ist der Traummann Macher des beabsichtigten deutschen Übergangs zu einer vollständig grünen Wirtschaft, eine Aufgabe von historischem Ausmaß. Aber da ist er und erklärt ruhig, dass wir mehr Kohleenergie brauchen. Mit Marcus Lanz verteidigt er sogar den Kauf fossiler Brennstoffe aus einem Land mit zweifelhafter Menschenrechtsgeschichte. Und der Wähler? Er liebt es laut Umfragen.

Erste Stufe

Habeck ist seit Monaten der mit Abstand beliebteste deutsche Politiker. Annalena Baerbock, Außenministerin und die andere Spitzenpolitikerin von De Groenen, folgt ihm. Für Furore sorgte sie mit ihrem leidenschaftlichen Eintreten für die Aufrüstung der Ukraine, eine ebenso bemerkenswerte Position für einen Anführer einer ursprünglich pazifistischen Partei keine Atomwaffen-Umweltpartei. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) folgt mit großem Abstand auf Platz drei. Als Partei haben die Grünen nun die SPD bei der monatlichen „Was würden Sie jetzt wählen“-Frage abgehängt der wichtigste deutsche Politologe† Mit 25 Prozent der Stimmen liegt sie einen Prozentpunkt hinter Spitzenreiter CDU, und dieser Abstand wird jeden Monat kleiner.

Die Grünen sind als idealistische Himmelsstürmer in die aktuelle Regierung eingetreten, die Partei der Mitte in einer Koalition mit der Mitte-Rechts-FDP, angeführt von der sozialdemokratischen SPD. Der Koalitionsvertrag strotzt vor ökologischen Ambitionen: Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe pro Jahr in eine umfassende ökologische und ökonomische Transformation, 2 Prozent der Landfläche für Windkraftanlagen vorgesehen, Stilllegung von Kohlekraftwerken von 2038 auf 2030 vorgezogen und stattdessen eine klimaneutrale Wirtschaft im Jahr 2045. bis 2050. „Wahrscheinlich das größte Modernisierungsprojekt in Deutschland seit mehr als hundert Jahren“, sagt Scholz.

Aber seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist und den europäischen Kontinent in eine historische Krise gestürzt hat, scheint Deutschland sozusagen auch etwas anderes zu tun. Habeck und Baerbock machen jedoch aus der Not eine Tugend: Sie haben De Groenen als reife Regierungspartei bekannt gemacht. Es hilft, dass beide Minister in der ersten Reihe stehen. Baerbock als Außenminister, mehr noch aber Habeck mit seinem mächtigen Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Nach Scholz – oder besser: neben Scholz – ist Habeck derjenige, der Deutschland durch die Krise navigieren muss. Sein Ministerium muss sowohl die Wirtschaft grün gestalten, die deutsche Industrie am Laufen halten und dafür sorgen, dass russisches Gas weiter nach Europa fließt, als auch die Sanktionen durchsetzen, Arbeitsplätze schützen und Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Waffensysteme erteilen. „Es ist, als hätten sich alle großen Krisen der Erde bereit erklärt, sich zur Bearbeitung an Habecks Ministerium zu melden“, heißt es in der Erklärung Süddeutsche Zeitung in ein Profil von Habeck

Offenheit

Das schafft Dilemmata und bietet eine willkommene Gelegenheit, Bürger und Wähler an dem Geschehen in Deutschland teilhaben zu lassen. beginnen, sich als neuer Führungsstil abzuheben: Offenheit, auch über eigene Zweifel. Seine Politik erklärt Habeck gerne in Videos auf Instagram. Dabei beugt sich der Minister oft vor und spricht den Betrachter an, als wäre er ein Freund, mit dem – die Metapher ist schon erschien in mehreren deutschen Medien – Habeck lässt sich bei einem Bierchen gut unterhalten: nicht so schön, aber machen wir gemeinsam das Beste draus. Als Gazprom letzte Woche das Gas durch die Nordstream-Pipeline nach Deutschland um zwei Drittel kürzte, weil dies wegen Wartungsproblemen aufgrund von Sanktionen der Fall war, erklärte Habeck die Situation.

„Was Russland sagt, ist falsch“, begann Habeck aus seinem Arbeitszimmer, zwei Jacken lose auf der Rückenlehne seines Schreibtischstuhls. In den folgenden vier Minuten erklärte er mit lässigen Handgesten, wie ein Kompressor in einer Pipeline funktioniert, was der Wartungszyklus ist, warum er erst im Herbst relevant wird und wie er zu dem Schluss kommt, dass Russland Unsinn verkauft. „Dies ist eine politische Aktion; die technischen Gründe sind ein Vorwand“, so der Minister. „Wie wir befürchtet haben, reduziert Putin schrittweise die Gaslieferungen nach Deutschland. Wir sind darauf vorbereitet. Wir haben kein Versorgungsproblem, aber es wird teurer.

Es funktioniert. Bei den jüngsten Wahlen in Nordrhein-Westfalen, dem mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands, haben die Grünen ihre Sitzzahl verdreifacht. Sie verdanken ihren Wahlsieg den Stimmen der Deutschen, die sich Sorgen um das Klima machen, sich durch einen transparenten Umgang mit Dilemmata das Vertrauen bewahren und neue Wähler gewinnen, nachdem sie bewiesen haben, dass sie große Krisen meistern können.

Ikarus

Aber Kommunikationsfähigkeit allein reicht nicht aus. ‚Nicht jeder Widerspruch in der Gesellschaft kann durch Dialektik gelöst werden‘, warnt Wochenzeitung Die Zeit in einem Stück über den „unheimlichen“ Erfolg von De Groenen† Neben dem Vergleich mit einem freundlichen Gesprächspartner in der Kneipe haben sich die deutschen Medien deshalb eine weitere Metapher für Habeck ausgedacht: die von Ikarus.

Baerbock und Habeck verbinden klare Sprache mit Entschlossenheit. Als Außenminister erschien Baerbock einen Monat vor Scholz in Kiew. Sie sagt eindeutig, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss, während Bundeskanzler Scholz sich darauf beschränkt, zu sagen: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen“. Wie ein Schachspieler wehrt Habeck einen russischen Versuch nach dem anderen ab, Deutschland durch Energieeinschränkungen in die Knie zu zwingen. Er stellte Deutschlands wichtigsten Gasspeicher unter Zwangsverwaltung, als dessen Eigentümer, eine Tochtergesellschaft von Gazprom, mit der Schließung drohte. Er sucht andere Energiequellen, sorgt dafür, dass Deutschland den Winter überstehen kann und verspricht die Unabhängigkeit von russischem Gas bis 2024

Es hilft, dass das ganze Land, von Politikern bis zu Wählern, immer noch von Schock und Entsetzen über einen groß angelegten Landkrieg auf europäischem Boden erfasst wird. Aber der Krieg in der Ukraine ist noch nicht gewonnen. Und ob Deutschland den in den letzten Tagen sich abzeichnenden russischen Gasstopp überstehen wird, ist noch fraglich. Hat der Wähler den ersten Schock überwunden, fragt er sich womöglich, wann endlich das Ende in Sicht ist. Was, wenn die Energie- und Treibstoffpreise weiter steigen, die Inflation nicht eingedämmt wird, die Industrie ins Stocken gerät oder trotz aller Maßnahmen Gasknappheit droht?

Aber jetzt fliegen die Grünen nah an der Sonne. Und während sich Habeck öffentlich nicht äußern wird, spekulieren viele im In- und Ausland, dass er hofft, bei der nächsten Wahl 2025 für das höchste Amt zu kandidieren.

Als Scholz und Habeck Anfang Juni in Berlin vor 1.500 Managern deutscher Wasser- und Energieunternehmen sprachen, lobte ein deutscher Comedian kurz nach ihrem Auftritt das hohe Niveau der geladenen Gäste. Olaf Scholz wäre heute nett gewesen, sagte der Comedian. Und die Kanzlerin auch.





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