„In Dunkelblum haben die Wände Ohren, die Blumen in den Gärten Augen, sie drehen den Kopf, um sicherzugehen, dass ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert jeden Schritt mit seinen Schnurrhaaren.“ Mit diesem schönen Satz beginnt der Roman Dunkelblum schweigt von der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse (1970). In der prototypischen Stadt Dunkelblum wissen die Ureinwohner alles voneinander, aber Schweigen ist an der Tagesordnung. Über die Schrecken, die dort während des Zweiten Weltkriegs stattfanden, wollen sie lieber nicht sprechen.
In ihrem faszinierenden Roman legt Menasse den ambivalenten Umgang Österreichs mit der Kriegsvergangenheit offen. Das Land wurde am 13. März 1938 als erstes von Nazideutschland annektiert. Das Anschluss geschah ohne Blutvergießen und mit Zustimmung der meisten. Nach dem Sturz Hitlers versuchten viele, ihre Straßen zu säubern, indem sie sich als Opfer oder Verfolgte des NS-Systems präsentierten. Alte Nazis nahmen den Faden ihres Lebens wieder auf und so begann die „brüllende Stille“.
Dunkelblum schweigt basiert auf einer wahren Geschichte. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Rechnitz an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn mehrere hundert Juden ermordet. Dort wurden sie zum Bau des Süd-Ostwalls eingesetzt, einer Verteidigungsmauer gegen die vorrückende Rote Armee. Die schreckliche Tat wurde von örtlichen Naziführern begangen, die im örtlichen Schloss feierten.
Abgesehen von diesem Amoklauf hat das fiktive Dunkelblum noch andere Schönheitsfehler auf seinem Wappenschild. Als erstes „Judenfrei“ konnte es 1938 das Nachbardorf Stoßimhimmel schlagen. Auf Anordnung der Gestapo mussten 87 Juden ohne den jüdischen Arzt das Dorf verlassen. Auch nach dem Krieg geschehen noch einige ungeklärte Morde.
Vergangenheit geladen
Diese angespannte Vergangenheit wird auf alle möglichen Arten ausgegraben. Der Roman spielt im Spätsommer 1989, wenige Monate nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs zwischen Ungarn und Österreich. Ein seltsamer Reisender kommt in Dunkelblum an, um die Geheimnisse seiner Vergangenheit zu lüften. Eine Gruppe Wiener Studenten saniert gerade den jüdischen Friedhof in Dunkelblum und stößt auf ein Skelett. Und Rehberg, Inhaber eines Reisebüros, schreibt eifrig die Stadtchronik um und plant die Einrichtung eines Heimatmuseums. Unterdessen wächst die Gruppe ostdeutscher Flüchtlinge an der Grenze zu Ungarn. Die Dunkelblumers stehen dieser Gruppe zunächst misstrauisch gegenüber, nehmen sie aber großzügig auf, als sie feststellen, dass die deutsche Botschaft alle Kosten übernimmt und sie sich etwas dazuverdienen können.
1989, 44 Jahre nach der Ermordung der ungarischen Juden, wandelt sich Dunkelblum von einem „gelehrten Nazi- und Mördernest“ in einen Flüchtlingshafen. Dahinter steckt kein übergeordneter Plan, sondern alle agieren „im Fluss und Atem der Geschichte“. Im Hintergrund gibt es einen Konflikt um die Wasserwirtschaft: Einige Einwohner wollen dem Wasserverband beitreten, während Bauer Faludi den Kampf für die Unabhängigkeit anführt. „Dunkelblums Wasser für Dunkelblum!“ ist sein Schlachtruf. Opportunismus und Eigeninteresse sind wieder weit verbreitet.
Menasse hat in Form und Schreibstil ein außergewöhnlich feines Werk geschrieben. Dabei folgt sie keiner chronologischen Linie, sondern entfaltet Stück für Stück die Landkarte von Dunkelblum und seinen Bewohnern: vom Lebensmittelhändler bis zum Arzt, vom Bürgermeister bis zum heimlich schwulen Inhaber des Reisebüros, vom Sekretär des Stadtrates bis zum allwissende Bardame. Informationen über ihren Hintergrund und ihre Erfahrungen sind über das ganze Buch verstreut. Es ist, als würde man Dunkelblum immer wieder aus einer anderen räumlichen und zeitlichen Perspektive betrachten.
In einem Interview im Das Schlagwort Menasse beschrieb ihr Buch als „einen dreidimensionalen Raum, in den man sich hineinbewegt und in dem alles miteinander verwoben ist“. Es erfordert vom Leser die nötige Anstrengung: Er muss fast Papier und Stift daneben halten, eine Landkarte zeichnen, um zu verstehen, wie alles mit allem zusammenhängt. Doch wer durchhält, wird reich belohnt: Die dreidimensionale Form macht Lust aufs Neue, wenn man das Buch schließt, um neue Fäden zu entdecken.
Markante Sätze und sprechende Namen
Auch die Sprache – von Annemarie Vlaming gut ins Niederländische übersetzt – ist sehr schön: Menasse produziert einen markanten Satz nach dem anderen über die Unzuverlässigkeit der Geschichtsschreibung und die vielfältigen Erscheinungsformen des Bösen. Sie verwendet althergebrachte Stilmittel wie „sprechende Namen“, bei denen die Namen von Personen und Orten etwas über deren Charakter aussagen.
Das verleiht dem Roman etwas Universelles: Dunkelblum steht stellvertretend für andere kleine Gemeinschaften und Charaktere wie Georg Horka und Alois Ferbenz sind prototypisch für die Bösewichte ihrer Zeit. Sie haben die brutalsten Verbrechen begangen, können aber nach dem Krieg einfach weiterleben: Horka meldet sich als Verfolgter des Naziregimes und Ferbenz eröffnet nach seiner Freilassung ein Herrenmodegeschäft in Graz. Beide kehren Jahre später nach Dunkelblum zurück. Faszinierend ist die Passage, in der sich Ferbenz im österreichischen Fernsehen als jemand offenbart, der immer noch von Hitler schwärmt und antisemitische Ansichten vertritt. In den Talkshows streiten sich die Gäste darüber, ob der alte Mann vor sich selbst hätte geschützt werden sollen.
Dunkelblum schweigt ist eine zeitlose Moralskizze: Das Verhalten der Bewohner auf den Wogen der Geschichte ist nichts Einzigartiges. Gleichzeitig rechnet Menasse unaufhaltsam damit ab, wie Österreich seine Kriegsvergangenheit verschleiert. Bestimmte Dinge werden immer unklar bleiben. Wie es Menasseh treffend am Ende des Buches formuliert, als Variation des Eröffnungssatzes: „Obwohl sich die Köpfe der Blumen fleißig in alle Richtungen drehen und die Wände ihre grauen, bröckelnden Ohren spitzen, sie absorbieren nur, sie tun es nicht.“ lass nichts los.‘
Eva Menasseh: Dunkelblum schweigt. Aus dem Deutschen übersetzt von Annemarie Vlaming. Atlas-Kontakt; 528 Seiten; 24,99 €.