Ein schrecklicher Fluch? Vielleicht warnt uns der Kanarienvogel gerade noch rechtzeitig

Wir kuemmern uns lieber um die Lieblingshunde einer verstorbenen Koenigin
Merel van Vronhoven

„Entschuldigung für die lange Wartezeit“, entschuldigt sich der Barista. „Einen doppelten Espresso zum Mitnehmen?“ Ich schaue von meiner Zeitung auf und nicke. Ende dreißig, schätze ich, Schweißperlen auf der Stirn. Seine blutunterlaufenen Augen und ein Haufen schmutziger Tassen auf der Theke deuten darauf hin, dass er schon eine Weile keine Pause mehr hatte. Gerade als er meinen Kaffee ansetzen will, ertönt ein aufdringliches Piepsen aus der Küche. Der Mann seufzt. „Tut mir leid, nimm einfach den Apfelkuchen aus dem Ofen.“ Hinter mir in der Schlange grummelt eine Frau: „Der ganze Personalmangel. Wo sind all diese Leute hin?‘

Wohin man auch geht, ob Café, Arzt oder Supermarkt, überall hängt der Zettel „Personal gesucht“. So angespannt war der Arbeitsmarkt in fünfzig Jahren noch nie. Laut Statistics Netherlands ist die Alterung ein wichtiger Grund, aber auch die Konsumexplosion nach Corona. Essen gehen, im Urlaub, Ausflüge zum Wohnboulevard. Als alles wieder „offen“ war, begann die Bevölkerung massenhaft Geld auszugeben. Nur das Personal war während des Lockdowns schweigend gegangen. Aus Kellnern wurden Call-Center-Angestellte, aus Bühnenbauern wurden Blitzlieferfahrer. Im Gesundheitswesen und im Bildungswesen tauschten die Menschen ihre Jobs an vorderster Front gegen einen im Schatten. Die Zahl der Erziehungsberater wuchs explosionsartig. Ganz zu schweigen von der Verbreitung unabhängiger Trainer. Vor zwei Jahren gab es mit 63.000 bereits eine alarmierende Zahl von Steuermännern, die an Land gingen, aber die Niederlande haben jetzt 95.000.

Und denken Sie nicht, dass all diese Berater und selbsternannten Trainer Däumchen drehen. Sie haben alle Hände voll zu tun mit Menschen, die mit einem Burnout zu Hause sind. So wie Kees, der seit fast 12 Jahren Teammanager bei einem großen börsennotierten internationalen Chemieunternehmen ist. „Jeder neue CEO hat neue Kürzungen angekündigt“, sagt er auf einer Geburtstagsfeier. „Meine Abteilung wurde immer kleiner, während der Arbeitsaufwand gleich blieb.“ Ein Kollege nach dem anderen brach unter dem Arbeitsdruck zusammen. Nach der dritten Kürzungsrunde hielt Kees es auch nicht mehr aus.

Die krankheitsbedingten Fehlzeiten in den Niederlanden erreichten dieses Jahr ein Rekordhoch. Durch den großen Personalmangel muss mehr Arbeit von weniger Händen erledigt werden, was wiederum zu größeren Lücken führt. Unterdessen droht der angespannte Arbeitsmarkt Sand in die geschäftigen Räder unserer Wirtschaftswachstumsmaschine zu streuen. Gerade dann, wenn wir das Geld für milliardenschwere Investitionen so dringend brauchen.

Also besorgniserregende Zeiten. Oder nicht? Vielleicht ist der derzeitige Personalmangel gar nicht der schreckliche Fluch, der auf den ersten Blick scheint, sondern der Kanarienvogel in der Zeche, der uns gerade rechtzeitig vor größerer Gefahr warnt. Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums haben unbestreitbaren Wohlstand gebracht, aber auch ungezügelten Konsum, einen verrückten Arbeitsmarkt und wachsende Ungleichheit. Und damit beispiellose Schäden für die Erde und die Umwelt.

Seien wir ehrlich, werden wir wirklich glücklicher sein, wenn wir rund um die Uhr einkaufen können? Aus einem prall gefüllten Haus voller ungetragener Jeans, Schubladen mit Turnschuhen in allen Farben, Heißluftfritteusen, tragbaren Lautsprechern, elektrischen Dosenöffnern, Brotbackautomaten und dem neusten iPhone? Macht ein kühles Bier oder eine Pizza, die innerhalb von fünf Minuten geliefert wird, so viel mehr Lebensfreude als ein selbstgekochtes Essen?

Während ich auf meinen doppelten Espresso warte, lese ich in der Zeitung, dass die Europäische Kommission den riesigen Müllberg der Einweg-Kaffeebecher angehen will. Sie müssen durch eine wiederverwendbare Sorte ersetzt werden. „Weniger Einweg-Kaffeebecher?“ sagt die Frau in der Schlange und liest mir über die Schulter. „Ist es nicht an der Zeit für weniger Cafés?“ Sie hat Recht. Auch der Personalmangel wird umgehend behoben. Aber jetzt Zeit für Kaffee.



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