Ein Kopftuch muss kein Beweis für Unterdrückung sein, eine Kopftuchpflicht schon

Besser kann man nicht sagen dass wir Sie nicht enttaeuschen
Helen Meis

Vor fünf Wochen wurde die 22-jährige Mahsa Amini von der iranischen Sittenpolizei festgenommen und in einem Polizeiwagen brutal abtransportiert. Aminis Vergehen? Sie hätte ihr Kopftuch falsch getragen und ihre dunklen Locken enthüllt. Amini starb drei Tage später in Polizeigewahrsam. Seit ihrem Tod haben Tausende iranischer Frauen und Mädchen den Sicherheitskräften die Stirn geboten, indem sie ihre Kopftücher auf den Straßen verbrannten.

Die Proteste sind ein Höhepunkt jahrelanger subversiver Opposition gegen das Kopftuch auf den Straßen und auf Social-Media-Plattformen. Das Kopftuch wurde erstmals nach der iranischen Revolution 1979 für Frauen, die für die Regierung arbeiteten, obligatorisch, gilt aber seit 1983 für alle Frauen im Iran. Frauen, die das Gebot missachten, riskieren, geschlagen, gefoltert, verhaftet oder entlassen zu werden. In den letzten Jahren haben sich Frauen jedoch dezent dagegen gewehrt, indem sie das Kopftuch etwas weiter nach hinten geschoben haben, bis es kaum noch die Haare bedeckt.

Die iranische Journalistin Masih Alinejad, die seit 13 Jahren im Exil lebt, postete im Juni 2014 auf ihrer Facebook-Seite ein Selfie, das sie ohne Kopftuch und mit wallendem Haar zeigt. Sie rief Frauen im Iran dazu auf, auch Selfies ohne Kopftuch zu machen und ihr zu schicken. Tausende Frauen folgten diesem Aufruf und Alinejad postete die Videos und Fotos der iranischen Frauen ohne Kopftuch auf Instagram, Twitter und Facebook, wo sie zehn Millionen Follower gewann, hauptsächlich aus dem Iran.

Berliner Mauer

Trotz ihres Exils ist Alinejad zu einer der wichtigsten Proteststimmen im Iran geworden. Das FBI hat in den letzten Jahren zwei Angriffe auf sie vereitelt. Seitdem lebt sie mit ihrem Mann in einem Versteck in New York. Im Gespräch mit das New-Yorker letzten Monat verglich Alinejad die Kopftuchpflicht mit der Berliner Mauer: Wenn sie fällt, bricht das ganze System zusammen. Sie ist überzeugt, dass Frauen das Regime von Ayatollah Ali Khamenei stürzen werden.

Die Kopftuchpflicht dient keinem anderen Zweck, als Frauen als autonome, unabhängige Wesen aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Es ist eine der drei ideologischen Säulen, auf denen die theokratische Diktatur im Iran aufgebaut ist (die anderen beiden sind Antiamerikanismus und Antizionismus). Dass iranische Frauen und Mädchen gegen die Kopftuchpflicht kämpfen, beweist, dass sie eine liberale Gesellschaft wollen, in der sie selbst entscheiden können, wer sie sind und was sie tragen. Wir müssen sie in diesem Kampf unterstützen.

rote Linie

Der Westen lässt illiberalen Regimen seit Jahren freie Hand. Das Rote Linie“ drohte Barack Obama für den Fall, dass der syrische Präsident Assad Chemiewaffen einsetze, stellte sich überhaupt nicht als rote Linie heraus. Der Westen sah zu, wie Russland 2014 die Krim annektierte, Weißrussland 2020 friedliche Proteste zerstreute und China im selben Jahr stillschweigend die Kontrolle über Hongkong übernahm. Chinas Präsident Xi Jinping hat diese Woche beim chinesischen Parteitag deutlich gemacht, dass er auch Taiwan „befreien“ will – notfalls auch mit Gewalt.

Der Krieg in der Ukraine scheint ein Weckruf für den Westen zu sein. Die Europäische Union hat erstmals Menschenrechtssanktionen gegen den Iran wegen Verletzung des Demonstrationsrechts angekündigt. Das ist zu begrüßen. Das harte Vorgehen gegen Demonstrationen in den Jahren 2017 und 2019 blieb ungesühnt.

Solidarität

Aber die Sanktionen, die sich gegen eine kleine Anzahl von Personen richten, die für das Vorgehen verantwortlich gemacht werden, gehen nicht weit genug. Die EU muss den Iraner unterstützen Zivilgesellschaft, heißt es: Frauenorganisationen, auch direkt unterstützen. Dies kann geschehen, indem Besprechungsräume mit Computern und Büroausstattung finanziert, Schulungen angeboten, gute Anwälte bezahlt und kostenloses Internet bereitgestellt werden, denn das iranische Regime schaltet häufig das Regierungsnetz ab oder nutzt es, um Demonstranten aufzuspüren.

Aus Solidarität mit iranischen Frauen und Mädchen werden weibliche Regierungsbeamte im Westen nun angewiesen, bei Besuchen in einem islamischen Land das Tragen eines Kopftuchs zu verweigern. Ein Kopftuch muss zwar kein Beweis für Unterdrückung sein, eine Kopftuchpflicht aber schon.

Helen Meis ist Wirtschaftswissenschaftler. Sie schreibt alle zwei Wochen eine Austauschkolumne mit Arnout Brouwers.



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