Ein Jahr nach der Invasion ist Selenskyj in Berlin: „Deutschland hat endlich begonnen, sich zu bewegen“

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Das Gedenken an die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs im Berliner Tiergarten.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Hat Deutschland der Ukraine bereits 7,4 Milliarden Euro Direkthilfe gegeben? Und Frankreich nur 1,7? Da ist der ukrainische Softwareentwickler Sasha Abramova (32) wirft einen Blick darauf, Dienstagnachmittag bei der Gedenkfeier zum Zweiten Weltkrieg im Berliner Stadtpark Tiergarten. Und Abramova kommt zu dem Schluss: „Wir reden hier noch nicht einmal von der riesigen Zahl ukrainischer Flüchtlinge, die Deutschland aufgenommen hat.“ Sie bekommen nicht einmal ein Visum für das Vereinigte Königreich.“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird an diesem Wochenende Deutschland besuchen, nachdem er in den letzten Monaten bereits Washington, London, Paris, Brüssel, Polen (dreimal) und sogar Helsinki und Den Haag besucht hat. Berlin steht offenbar ganz unten auf der Prioritätenliste. Auch logisch. Denn diese Deutschen stören nur Waffenlieferungen an die Ukraine. Jedoch?

Das Bild stimmt nicht ganz. Deutschland ist mittlerweile nach den USA der größte Geber der Ukraine. Laut dem Ukraine Support Tracker (IPW) des renommierten Kieler Instituts für Weltwirtschaft befand sich Deutschland im ersten Jahr des Ukraine-Krieges 14,7 Milliarden Euro an militärischer, finanzieller und humanitärer Hilfe. Darin enthalten ist die indirekte Unterstützung über EU-Beiträge, und zwar anderthalbmal so viel wie das Vereinigte Königreich.

Aber die Deutschen begannen langsam. Bereits zu Beginn des Krieges blamierte sich der damalige deutsche Verteidigungsminister mit der Zusage von 5.000 Kampfhelmen. Zugesagte Waffensysteme verzögerten sich, Munition kam nicht an. Bundeskanzler Olaf Scholz weigerte sich lange, moderne deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 zu schicken, während ein Chor von Verbündeten darum bettelte.

Lebenswichtige Unterstützung

Doch jetzt leistet die Ukraine Widerstand eine riesige Batterie fortschrittlicher deutscher Waffen: gepanzerte Haubitzen-Artilleriesysteme, Leopard-2-Panzer, viele Dutzend Infanterie-Kampf- und Flugabwehrfahrzeuge, fortschrittliche Raketensysteme, Drohnen. Ukrainische Bürger werden durch das Flugabwehr-Raketensystem Patriot geschützt, und zwei hochmoderne deutsche Flugabwehrsysteme Iris-T haben sich als so effektiv erwiesen, dass sie ganze Städte gegen ankommende Raketen verteidigen können. Drei weitere dieser Systeme sind in Vorbereitung, ebenso wie mindestens 100 ältere Kampfpanzer vom Typ Leopard 1A5 – gemeinsam finanziert mit den Niederlanden und Dänemark.

Hat sich Deutschland davon vollständig erholt? „Das kommt darauf an, wie man es betrachtet“, sagt der ukrainische Softwareentwickler Iurii (30), der seinen Nachnamen nicht online stellen möchte, am Dienstag auf der Bank neben seinem Kollegen Sasha. „Okay, sie haben sich endlich bewegt. Aber ich denke, angesichts ihrer Wirtschaftskraft können sie mehr tun. Wie hoch ist der deutsche Beitrag gemessen am Bruttosozialprodukt?

Iurii (links) und Sasha.  Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Iurii (links) und Sasha.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Das sind laut IfW 0,4 Prozent. Damit liegt Deutschland bei der Kapazität tatsächlich recht weit unten im Ranking. An der Spitze liegen die drei baltischen Staaten, die 1,1 bis 1,4 Prozent ihres BIP für die Unterstützung der Ukraine ausgeben. Die Niederlande liegen mit 0,7 Prozent weit oben im Ranking. Die USA geben „nur“ 0,3 Prozent ihres BIP aus, aber ohne diese 71 Milliarden Euro wäre die Ukraine hoffnungslos verloren.

Also ja, sagt André Frank, der Projektleiter des Ukraine Support Tracker, die Vorstellung, dass Deutschland lediglich hinderlich ist, muss angepasst werden. Andererseits: „Deutschland hat 260 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Folgen der hohen Gas- und Strompreise für die eigenen Bürger zu begrenzen.“ Anscheinend spielt Geld keine Rolle. So gesehen fragt man sich vielleicht, warum nicht mehr als 14,7 Milliarden Euro in die Ukraine fließen.“ Er lacht und sagt: „Aber vielleicht ist das ja auch sehr deutsch, immer von der Regierung mehr zu fordern.“

Leichte Schmerzen

Viele westliche Staats- und Regierungschefs sagten letztes Jahr, dass die Ukraine den Krieg gewinnen müsse. Doch Bundeskanzler Scholz bleibt stets bei seinem Grundsatz: „Nicht verlieren“. Das Vereinigte Königreich verkündete am Donnerstag mit Trommelwirbel die Ankunft der Marschflugkörper „Shadow Storm“ in der Ukraine. Aber Deutschland verspürt offensichtlich mehr Unbehagen als Stolz über seine Waffenlieferungen, auch wenn sie unzählige Leben retten.

Das Unbehagen rührt natürlich von den historischen Überlegungen her, die noch immer der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik zugrunde liegen. Die Deutschen sehen einen Begriff wie „Nationalstolz“ einfach anders als die Franzosen oder die Briten. „Das sieht man auch in der humanitären Hilfe“, sagt „Thomas“ am Dienstag im Tiergarten. Er arbeitet in einem deutschen Ministerium und möchte deshalb nicht, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. „Deutschland gibt stillschweigend Milliarden, während die USA jede Zwei-Dollar-Kiste mit Lebensmitteln mit US-Hilfe abstempeln.“

Vadim Starobudow mit einem Foto seines russischen Großvaters.  Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Vadim Starobudow mit einem Foto seines russischen Großvaters.Bild Anna Tiessen für die Volkskrant

Der russische Krieg gegen die Ukraine zwang auch Deutschland in kurzer Zeit zu einer gewaltigen Wende, bei der alle möglichen Tabus über Bord geworfen wurden. Berlin lieferte nie Waffen an aktive Konflikte, sah sich gerne als Friedensstifter und will in einem europäischen Krieg nicht die Führung übernehmen. Sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung haben damit zu kämpfen. Diese Überlegungen vereinen sich in Scholz, der Personifikation der Vorsicht.

„Ich finde es richtig, dass wir Waffen an die Ukraine liefern, aber es ist ein sehr großer Schritt“, sagt Michèle Roth (49), die lange Zeit bei einer Friedensorganisation gearbeitet hat. „Bisher war unsere Position immer: Mit Waffen verlängert man einen Konflikt nur.“ Der Dritte im Bunde, der für eine „neutrale“ Hilfsorganisation arbeitet und nur mit seinem zweiten Vornamen „Paul“ in der Zeitung stehen will, fügt hinzu: „Deshalb muss die Regierung alles tun, um auch Verhandlungen aufzunehmen.“ „Das passiert jetzt zu wenig.“

Kampfflugzeuge und Langstreckenraketen

Vielleicht ist das die letzte Überlegung der Regierung: die Möglichkeit eines Abstiegs auf der Eskalationsleiter offen zu halten. Obwohl Deutschland der Ukraine immer noch Milliarden an Waffen schenkt, wurde es bis vor Kurzem weniger in die Öffentlichkeit gerückt als einige seiner Verbündeten. Unterdessen redet Scholz immer noch mit Putinin der Hoffnung, dass er sich an die Deutschen wenden wird, wenn er endlich denkt, dass es Zeit für Verhandlungen ist.

Auch Selenskyj wird an diesem Wochenende in Deutschland auf diese Strategie stoßen. Denn bei jeder Anfrage nach einer neuen Waffenkategorie, vom westlichen Kampfflugzeug bis zur Langstreckenrakete, stellt sich Deutschland zwei Fragen: Was machen unsere Verbündeten und können wir nach diesem Schritt einen Rückzieher machen?



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