In einem noch intakten Bürogebäude in Kiew sitzen ukrainische Bürger in einem provisorischen Wartezimmer. Concetta Feo (41), eine italienische Traumapsychologin aus Ärzte ohne GrenzenSie versucht, mit möglichst vielen von ihnen zu sprechen. Beim ersten von mehreren Telefonaten mit de Volkskrant Feo erzählt von Lyudmyla (Name geändert, wegen des Berufsgeheimnisses von Ärzten und Helfern), einer Frau, die ihren Bruder bei einem Bombenanschlag sterben sah. Lyudmyla musste ihn eilig im Hof ihres eingestürzten Hauses begraben. Die darauffolgende und andauernde Trauer war ihr zu viel geworden. Lyudmyla hatte in der vergangenen Woche kaum geschlafen – sie wagte es nicht, ihre Augen zu schließen, aus Angst vor dem Sturm heftiger Gedanken, der folgen würde.
„Wir mussten ihr erklären, dass sie traumatische Erlebnisse hatte. Dass ihre Angst und Traurigkeit normale Reaktionen auf ungewöhnliche Ereignisse waren“, erklärt Feo. Damit Lyudmylas anhaltende Trauer nicht zu ernsthaften psychischen Störungen führt, musste Feo schnell eine passende Lösung finden.
Am Ende führte Feo Ljudmylas schwerste Beschwerden zurück zur improvisierten Beerdigung ihres Bruders. Feo schlug ihr daher vor, doch die üblichen Rituale durchzuführen. Wie ein symbolischer Gottesdienst: Ljudmila ist ukrainisch-orthodox, also legte sie der Überlieferung nach zwei Rosen mit einem Glas Tee und Zucker für die Seele des Verstorbenen nieder. „Sie bekam rote Augen, lächelte und umarmte uns. Sie war dankbar, und ich bemerkte, dass wir etwas getroffen hatten.‘
Auf diese Weise hilft Feo jeden Tag Dutzenden von Menschen. Einen Moment in einer U-Bahn-Station in Kiew, wo die bedrückende Atmosphäre zu Panikattacken führt, den nächsten in einem sechs Stunden entfernten Dorf, wo die Bedrohung durch Angriffe die Menschen mit ständiger erhöhter Wachsamkeit zurücklässt. So vielfältig die Beschwerden sind, so flexibel sind Feo und ihre Kollegen.
Traumapsychologie
Hinter dieser schwierigen Aufgabe steckt jahrzehntelange Feldforschung, unter anderem von Kaz de Jong, seit 1993 Traumapsychologe für Ärzte ohne Grenzen. Seine Erfahrungen unter anderem in Ruanda, Sierra Leone, Tschetschenien und Kolumbien trugen zur Entwicklung des psychologischen Flügels der Organisation bei. Es entstand, als Ärzte regelmäßig dieselben Patienten in Feldkliniken sahen. Ihre Beschwerden, auch die körperlichen, stellten sich oft als seelisch bedingt heraus. „Was nützt es, Medizin und Essen zu geben, wenn die Menschen ihre Hoffnung verloren haben? Dann akzeptieren sie es nicht mehr“, sagt de Jong.
Psychologische Betreuung in Friedenszeiten ist mit dem Angebot von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine nicht zu vergleichen: „In Kriegsgebieten geht es nicht darum, Menschen zu heilen, sondern ihnen zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen.“ Sie sind laut de Jong auch nicht krank, sie leiden unter Stressbeschwerden: Ängste, Wiedererleben von Erlebnissen, Schlaflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Panikattacken. Lösungen für diese Beschwerden liegen in der Resilienz des Einzelnen und dem Sicherheitsnetz einer Gemeinschaft. De Jong und Feo helfen ihren „Patienten“, diese Lösungen zu finden.
Das tun sie zum Beispiel mit „psychologischer Erster Hilfe“, wenn jemand akut von Emotionen überwältigt wird, zum Beispiel bei einer Panikattacke. Das Konzept dieser Ersten Hilfe besteht darin, grundlegende Kommunikation zu nutzen, um jemanden zu erreichen. „Einige Opfer hören nicht auf zu reden, andere sind völlig dissoziiert.“ Die Hauptziele sind, ein offenes Ohr zu haben, herauszufinden, was mit jemandem passiert ist und welche Art von Hilfe er benötigt, und ihn gegebenenfalls an Fachleute zu verweisen.“
Klingt es so, als könnten das viele tun? Das ist auch die Idee: Feo und ihre Kollegen bringen diese Methode gezielt Freiwilligen bei, um einer Gemeinschaft von innen zu helfen. Feo: „Besonders schwer fällt es den Ehrenamtlichen, mit weinenden oder aggressiven Menschen umzugehen.“
Der akute Eingriff
Wenn jemand mit ernsthaften Beschwerden zu kämpfen hat, die Freiwillige nicht beheben können, greifen Experten mit dem ein, was Feo „akute Intervention“ nennt. Zum Beispiel tat sie das mit Nadya (nicht einmal ihr richtiger Name), einer Frau mittleren Alters, die aus dem Donbass nach Kiew geflohen war. Ihre Familie, Verwandte und Freunde blieben zurück. Jetzt fühlte sie sich hoffnungslos und allein. „Sie konnte nicht aufhören zu weinen“, sagt Feo.
Für Nadya war der Krieg bereits 2014 ausgebrochen. In dieser ersten Phase des Konflikts konnte sie die psychische Belastung noch bewältigen. Das änderte sich, als ihr Haus bei der groß angelegten russischen Invasion im Donbass zerstört wurde. Nadya beschloss, nach Kiew zu fliehen, konnte ihren Mann und ihre Familie jedoch nicht davon überzeugen. Sie ging trotzdem, aber durch die plötzliche Einsamkeit in Kiew wurde sie mit einem Trauma konfrontiert, das bereits 2015 begonnen hatte.
Feo erklärte Nadya, dass das traumatisierte Gehirn wie ein vollgestopfter Schrank ist: Es verursacht Stress, aber man will es auch nicht öffnen und putzen, wegen dem, was herauskommen kann. Es ist normal, Hilfe zu benötigen, um Emotionen und Erfahrungen zu bewältigen. „Ich helfe, die Emotionen zu sortieren“, sagt Feo. Im Fall von Nadya bestand dies hauptsächlich darin, die Schichten des Traumas aus dem Donbass und aus Kiew aufzulösen. Diese Verarbeitung von Emotionen wird oft mit dem, was man in der Fachsprache „Psychoedukation“ nennt, kombiniert. Darin sagt ein Psychologe, was eine Person braucht und tun kann, um mehr Kontrolle über die Emotionen zu erlangen.
Nach dem ersten Gespräch fühlte sich Nadya besser und wollte für weitere Sitzungen wiederkommen. Aber es war Feo unmöglich, diese Gespräche zu führen, sie wurde andernorts ständig gebraucht. Zu ihrem Bedauern sieht Feo ihre Kunden oft nur einmal. „Ich habe keine Ahnung, wie es ihr jetzt geht.“
Wirksamkeit?
Eine Kriegssituation führt nicht nur zu überwiegend praktischer Hilfeleistung, es ist auch kaum möglich, die Wirksamkeit von Interventionen zu bewerten. Wie lässt sich die Effektivität eines Ansatzes messen, wenn „Subjekte“ selten zweimal angesprochen werden können?
Doch Psychologen tun nicht nur in Kriegssituationen irgendetwas. Ihre Methode hat eine lange Geschichte, auf der sie aufbauen. Laut Rolf Kleber, emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universität Utrecht und ebenfalls bei Ärzte ohne Grenzen engagiert, begann die Geschichte der psychotraumatischen Versorgung in den Vereinigten Staaten in den 1970er Jahren, als der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ zum ersten Mal verwendet wurde anhaltende und schwere Stressbeschwerden von Veteranen aus dem Vietnamkrieg.
In den Niederlanden ist die Traumaversorgung erst in den 1990er Jahren wirklich gewachsen, aber dann war sie laut Kleber „zu sehr auf Störungen und Therapie fokussiert“. Ein Beispiel hierfür ist das „Debriefing“, bei dem Betroffene kurz nach einer traumatisierenden Situation ihre Gedanken und Gefühle mit Leidensgenossen besprechen. Diese Methode erwies sich als unwirksam: Polizisten, die 1992 an der Bijlmer-Katastrophe beteiligt waren und „debrieft“ worden waren, hatten genau das getan See litten unter posttraumatischen Beschwerden, obwohl sie mit diesem Eingriff zufrieden waren. Die Lektion: Kurzfristig ist das Teilen von Emotionen zu konfrontativ, sodass Fürsorge kontraproduktiv ist.
In den folgenden Jahrzehnten verlagerte sich die Perspektive der Akuttraumaversorgung immer mehr von der Therapie hin zur praktischen Bereitstellung von Struktur, Nahrung und Information, beispielsweise auf der Grundlage der von Feo angewandten Psychoedukation. Im Jahr 2019 untersucht Jeannette Lely, betreut von Kleber, spricht über Therapien, die wie Feos Akutinterventionen zum Teil auf Psychoedukation beruhen. Sie kam zu dem Schluss, dass diese die posttraumatischen Beschwerden von Flüchtlingen aufgrund von Kriegsgewalt effektiv linderten.
Wissenschaftler führen zahlreiche ähnliche Studien dabei geht es aber vor allem um Interventionen unter „sicheren“ Bedingungen in Flüchtlingslagern nach den traumatischen Ereignissen. Ob die Akutinterventionen von Feo und ihren Kollegen gleichermaßen wirksam sind, lässt sich daher nicht sagen. Es ist durchaus plausibel, dass diese Erkenntnis vorerst ausbleibt. Kleber: ‚Sie warten nicht gerade auf einen Forscher im Donbass.‘
Feo hat auch keine Zeit für umfangreiche Auswertungen, die ohnehin nur auf eigenen Erfahrungen beruhen würden. Obwohl diese nicht in einer wissenschaftlichen Publikation dokumentiert sind, sprechen sie Bände: „Ich war überrascht, dass mich hier alle umarmen. Sie sind so glücklich, ihre Geschichte zu teilen. Die Erleichterung, die ich in ihren Augen sehe, unterscheidet sich Tag und Nacht von der Art, wie sie bei mir angekommen sind.‘
Feo ist jetzt wieder zu Hause in Italien. Beim letzten Gespräch sagt sie, dass sie bereits in ihrem Krankenhaus arbeitet. Seit ihrer Rückkehr aus der Ukraine hatte sie einen Vormittag Pause.