Hallo Arnout, der ungarische Außenminister war gestern in Moskau und hat die Russen um mehr Gas gebeten. Woher kommt diese auffällige Bitte?
„Wie im übrigen Europa sind auch in Ungarn die Energiepreise enorm gestiegen. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat seit vergangener Woche ein Sondermandat, um anderswo Gasreserven anzuzapfen. Sein Mandat geht auf den vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ausgerufenen Energienotstand zurück.
„Das Land hat keinen Zugang zu Seehäfen und kann Gas nur über Pipelines über Land beziehen. Um den Preis niedrig zu halten, muss es daher auf dem Festland nach Energie suchen. Trotz des Krieges in der Ukraine scheuen sich die Ungarn nicht, wieder nach Russland zu schauen, auch wenn das gegen das schmerzende Bein der Europäischen Union ist. In Moskau forderte Außenminister Szijjártó seinen russischen Amtskollegen Lawrow auf, die Gasversorgung deutlich zu erhöhen. Lawrow hat gesagt, er werde die Möglichkeiten prüfen.‘
Warum ist Orbán bereit, die Beziehungen zu europäischen Führern für russisches Gas zu schärfen?
„Die niedrigen Energiepreise für Haushalte sind seit rund zehn Jahren Orbáns Kronjuwel. Jetzt, da die Preise in die Höhe geschossen sind, wird es immer schwieriger, sie künstlich niedrig zu halten. Wer über dem Durchschnittsverbrauch liegt, muss ab August siebenmal mehr für Gas und doppelt so viel für Strom bezahlen. Es zeigt, wie weit die künstlichen und realen Preise auseinander liegen.
„Außerdem ist kein Geld mehr da, um den Preisunterschied auszugleichen. Ungarn wartet noch immer auf Geld von der EU. Die Ungarn würden zum Beispiel Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds erhalten, doch die EU-Kommission will, dass die Regierung zunächst die Rechtsstaatlichkeit verbessert. Gleiches gilt für die Milliarden aus dem Mehrjahreshaushalt. Die Europäische Kommission möchte nicht, dass es aufgrund von Bedenken hinsichtlich der weit verbreiteten Korruption unsachgemäß ausgegeben wird.
„Dass Orbán ein Putin-Umarmer ist, der auf Moskau blickt, ist zu einfach. Er will vor allem vermeiden, dass die Haushalte noch mehr zahlen müssen. Die Mittelschicht seines Landes unterstützt ihn im Austausch für wirtschaftliche Stabilität. Schon jetzt sieht sich Orbán aufgrund der sich verschlechternden Wirtschaftslage zu unpopulären Maßnahmen gezwungen, die zu Protesten führen. Er steht also unter Druck.“
Ist es der ungarischen Regierung egal, dass die Russen in der benachbarten Ukraine einen Krieg führen?
Orbáns Geschichte war immer, dass Ungarn ein Land zwischen Ost und West ist und dass sie weiterhin mit beiden Geschäfte machen sollten. Das gilt auch in Kriegszeiten. In den ungarischen Medien, die zu 80 bis 85 Prozent direkt oder indirekt mit der Regierung verbunden sind, herrscht seit langem die Linie, dass Ungarn keine Partei dieses Konflikts ist und die Ungarn nicht darunter leiden sollten.
„Das fällt natürlich auf, wenn man sich andere Nachbarländer der Ukraine ansieht. Polen ist ganz anders. Dort sind sie kämpferisch, sie tun alles, um die Ukrainer zu unterstützen, und sie sind bereit, wirtschaftlich aufzugeben.
„Für Europa ist besonders problematisch, dass Orbán die diplomatischen Beziehungen zu Russland abbricht, während der Rest der EU ihm fast vollständig den Rücken gekehrt hat. Die Europäische Union zieht es vor, alle Nasen in die gleiche Richtung zu sehen, aber Ungarn will das nicht.“
Kann die EU noch gegen die Russen Stellung beziehen, wenn einer ihrer Mitgliedstaaten in Moskau um Gas bittet?
„Dieser Schritt der Ungarn wird auf jeden Fall Folgen haben: Sie haben die Dinge wirklich auf den Kopf gestellt. Auch Ungarn gelang es vor zwei Monaten, die Maßnahmen etwas abzumildern, als die Mitgliedstaaten über ein sechstes Sanktionspaket gegen Russland verhandelten. Die europäische Einmütigkeit in der Reaktion gegen die Russen hat damit schon einen ziemlichen Schlag erlitten.
„Und jetzt muss sich Europa wieder damit auseinandersetzen. Ohne Orbán ist es schwer genug, alle in Europa in dieselbe Richtung zu lenken. Vielleicht gelingt es den anderen Mitgliedsstaaten doch noch, Ungarn durchzubringen, und das Land will einfach einen besseren Deal erzwingen. Doch der Besuch des Außenministers in Moskau hilft nicht. Damit strebt Ungarn erneut eine Eskalation mit Brüssel an.“